Wilna/Vilnius (Litauen)

In größerer Zahl waren aschkenasische Juden ab Ende des 11.Jahrhunderts infolge der Verfolgungen während der Zeit der Kreuzzüge und gegen Mitte des 14.Jahrhunderts (Pest) sowie zahlreicher lokaler Massaker und Vertreibungen aus deutschsprachigen Gebieten in die baltischen Länder eingewandert. Die zumeist toleranten Regierenden förderten im allgemeinen die jüdische Zuwanderung, die ihnen wirtschaftlichen Nutzen versprach.

 Landkarte Litauen Die Hauptstadt Litauens liegt im Osten des Landes unweit der Grenze zu Weißrussland; sie war in der Vergangenheit traditionell eine der wichtigsten Verbindungsstädte zwischen Ost und West. Seit der Gründung im Jahr 1316 galt Wilna/Vilnius als eine sehr liberale Stadt, die allen Glaubensrichtungen gegenüber tolerant war. So bot die Stadt im Laufe ihrer Geschichte vielen Juden eine Zuflucht. Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich das Großfürstentum Litauen allmählich zu einem der Zentren des Ostjudentums mit Wilna/Vilnius, das als „Jerusalem Litauens“ oder „Jerusalem des Nordens" bezeichnet wurde.

Vilnius um 1575 (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)

Erste jüdische Niederlassungen sollen bereits seit Ende des 15.Jahrhunderts bestanden haben. Wenige Jahrzehnte später erhielt Wilna vom polnischen König Sigismund das Privileg “De non tolerandis judaeis”; damit war es Juden nicht gestattet, sich in der Stadt niederzulassen und Handel zu treiben. Seit den 1590er Jahren – nach einem gewalttätigen Pogrom getragen von der einheimischen Bevölkerung - durften sich dann Juden – zugestanden von König Sigismund III. – in Wilna wieder ansiedeln; in einem geschützten jüdischen Viertel wurden Juden Wohn- und Handelsrechte zugestanden; einige Familien lebten dort auch unter dem Schutz polnischer Adliger. Mitte des 17.Jahrhunderts floh ein Großteil der jüdischen Bevölkerung vor den Kosaken aus der Stadt; Zurückgebliebene wurden ermordet und das jüdische Viertel niedergebrannt. In den Folgejahrzehnten konnte sich die jüdische Gemeinde unter großen Entbehrungen wieder erholen und wuchs zahlenmäßig deutlich an. Zu dieser Zeit waren überregionale Handelstätigkeiten jüdischer Kaufleute mit Deutschland, Russland und dem Osmanischen Reich zu verzeichnen. Eine Hungersnot (1709/1710) kostete mehr als 30.000 Menschen, darunter ca. 4.000 Juden das Leben. Als Wilna unter russischer Herrschaft stand, expandierte die innerstädtische Wirtschaft, die ganz entscheidend von Juden geprägt war.

Jüdische Gemeinde - Wilna/Vilnius (Litauen)  Litauischer Jude mit Frau und Tochter, 18. Jahrhundert (Abb. aus: zydziwpolsce.edu.pl/)               

Anfangs unterscheiden sich die Juden in ihrer Kleidung nicht von der übrigen Bevölkerung. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich die charakteristische Kleidung der litauischen/polnischen Juden mit dem schwarzen Mantel oder Kaftan.

Die Große Synagoge (auch als "Stadtsynagoge" bezeichnet) war das größte jüdische Bethaus Wilnas. Seine baulichen Anfänge liegen gegen Ende des 16.Jahrhunderts, als sich in Wilna eine organisierte Gemeinde bildete. Die Große Synagoge und der Synagogenhof wurden im Zweiten Weltkrieg durch Kriegseinwirkung schwer beschädigt und in den 1950er-Jahren von den sowjetischen Behörden abgerissen.

  Grande syna Vilna.jpg

Große Synagoge, hist. Aufn.(aus: wikipedia.org, CCO)  -  Synagogen-Modell (Aufn. K. 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 1916 Vilniaus choral Synagoge adj.jpg Die sog. Choral-Synagoge (Bau-Zeichnung, 1901, aus: commons.wikimedia.org, CCO und hist. Aufn. ca. 1915, aus: wikipedia.org, CCO) wurde nach Plänen des Architekten Dawid Rozenhaus im Jahre 1903 fertiggestellt; es war ein Gebäude, das romanische und maurische Stilelemente in sich vereinigte. (Anm. Es ist das einzig heute noch baulich erhaltene jüdische Gotteshaus in Vilnius)

  Prägend für die jüdische Historie der Stadt waren die Studien des berühmten Gaon von Vilnius (Elijah Ben Salomon Salman, 1720 - 1797); er entstammte einer Rabbiner-Familie. Als Verfechter der orthodoxen Lehre erwarb er sich einen besonderen Ruf unter den Rabbinern Wilnas; er erhielt den Titel „Gaon“, der Weise. In religiösen Streitfragen wandten sich Rabbiner gerne an den "Gaon von Wilna", den genialen Schriftgelehrten im Großfürstentum Litauen, um bei religiös-rituellen Fragen dessen Expertisen einzuholen. Allerdings war der Gaon nicht ganz unumstritten: So wandte er sich vehement gegen die aufkommende Bewegung des Chassidismus und erklärte diese sogar für Häresie, die es zu bekämpfen galt.

Seit 1847 gab es in Wilna eine Rabbinerschule, die zwei Jahrzehnte später zu einem Lehrerseminar umgewandelt wurde.

Der älteste (und größte) jüdische Friedhof Wilnas war bereits 1487 im Vorort Šnipiškės (heute: Žirmūnai) angelegt worden; geschlossen wirde dieser im Jahr 1831.

Der zweite Friedhof, der von 1828 bis 1943 genutzt wurde, lag im Stadtteil Užupis, der damals mehrheitlich von Juden bewohnt wurde. Beide Begräbnisstätten wurden während der sowjetischen Herrschaft zerstört und das Gelände eingeebnet.

hist. Aufn., um 1920 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Die neue jüdische Begräbnisstätte wurde in der Nähe des Sudervės-Friedhofs angelegt. Einige Gräber berühmter Persönlichkeiten wurden vor der Zerstörung der beiden alten Friedhöfe hierher überführt.

 

Juden in Wilna/Vilnius:

--- 1640/50 .................... ca.  3.000 Juden,

--- um 1655 .................... ca.    400   "  ,

--- 1765 ....................... ca.  4.000   "  ,

--- um 1800 .................... ca.  5.700   "  ,

--- um 1850 .................... ca. 40.000   “  ,

--- 1897 ....................... ca. 64.000   “  ,

--- 1931 ....................... ca. 55.000   “  (ca. 28% d. Bevölk.),

--- 1941 ....................... ca. 80.000   “  ,

--- 1945 .......................   ?

--- 1970 ....................... ca. 16.500   “  ,

--- 2005 ....................... ca.  3.000   "  .

Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust,Vol 3, S. 1398 f.

und                 Mordechai Zalkin (Bearb.), Vilnius, in: The Yivo Encycopedia of Jews in Eastern Europa, online abrufbar unter: yivoencyclopedia.org/article.aspx/Vilnius

Wilna zu Beginn des 19.Jahrhunderts (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Anfang des 20.Jahrhunderts wurde Wilna Zentrum der russischen zionistischen Bewegung.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde in Vilnius das (erste) Jüdische Museum eingerichtet, das eine Sammlung beherbergte, die über jüdisches Alltagsleben und Kultur Auskunft gab.

In den 1920er Jahren galt die Stadt als Mittelpunkt jiddischer Kultur, die sich auch durch Gründung jiddischer und hebräischer Schulen manifestierte. Daneben gab es jiddische Verlage und Druckereien; mehrere Tages- und Wochenzeitungen trugen zum Erscheinungsbild jüdischen Lebens bei. Auch das in Wilna gegründete jiddische Theater („Wilnaer Truppe“), das in ganz Europa und auch in den USA gastierte, machte sich durch seine Erfolge einen Namen.

Im Jahre 1939 lebten die mehr als 50.000 Juden unter polnischer Herrschaft; sie hatten unter antisemitischer Einstellung der polnischen Bevölkerung zu leiden.

                         Antokolskio street, 1940 Jüdisches Viertel, 1940 (Aufn. aus: lrt.lt)

Als die Rote Armee Litauen besetzte, begrüßten die Juden die sowjetische Besetzung, weil sie dadurch (zunächst) von deutscher Okkupation verschont geblieben waren. Auch Juden aus den von Deutschland besetzten polnischen Gebieten flüchteten nach Wilna.

Doch das sowjetische Regime ging nun gegen jüdische Organisationen vor, übernahm jüdische Schulen und andere kulturelle Organisationen; jüdische Studien und die hebräische Sprache wurden verboten. Während dieser sowjetischen Besatzungszeit verließen ca. 6500 Juden Wilna in Richtung Palästina, USA, China, u.a.

Bereits eine Woche nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR erreichte die deutsche Wehrmacht die Stadt, die fortan zum „Reichskommissariat Ostland“ gehörte. Nur wenigen Juden gelang die Flucht ins Landesinnere. Die verbliebene jüdische Bevölkerung war zunächst den Übergriffen der lokalen Bevölkerung und der deutschen Einsatzgruppen ausgeliefert.

Aus der Ereignismeldung No. 17 vom 9.Juli 1941: “ ... Die dem Einsatzkommando (Anm.: 9) unterstellten litauischen Polizeisparten in Wilna sind beauftragt worden, laufend Namenslisten der Wilnaer Juden, zuerst die Intelligenzschicht, politische Aktivisten und wohlhabende Juden, aufzustellen. Daraufhin sind laufend Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen durchgeführt .... am 4.7. wurden 54, am 5.7. 93 Juden liquidiert. Das greifbare Judenvermögen wurde sichergestellt. ... Die Errichtung eines Judenviertels wird vorbereitet. Auf Vorschlag des Einsatzkommandos wird das hauptsächliche Judenviertel von der Feldkommandantur als Sperrgebiet für die Wehrmachtsangehörigen erklärt werden. ...”   (aus: H.Krausnick/H.H.Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 -1942,  Dt. Verlagsanstalt Stuttgart 1981, S. 616)

Als Gebietskommissar in der Stadt Wilna (als Leiter der zivilen Besatzungsbehörden) war der SA-Sturmbannführer Hans Christian Hingst eingesetzt; er hatte am 2.August 1941 die folgende Anordnung unterzeichnet:

1.) Sämtliche Juden beiderlei Geschlechts der Stadt Wilna sind verpflichtet, zu ihrer Kennzeichnung je einen gelben Zionstern auf der linken Brustseite und auf dem Rücken zu tragen.

2.) Der jüdischen Bevölkerung wird das Betreten der Gehsteige untersagt. Die Juden haben den rechtsseitigen Rand der Fahrstraße einzuhalten und hintereinander zu gehen.

3.) Der jüdischen Bevölkerung wird der Aufenthalt auf Promenadenwegen und in allen öffentlichen Grünanlagen verboten. Desgleichen wird der jüdischen Bevölkerung die Benutzung der aufgestellten Ruhebänke untersagt.

4.) Der jüdischen Bevölkerung wird die Benutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel wie Autotaxen, Pferdedroschken und Autobussen, Personendampfern und ähnlicher Fahrzeuge untersagt. Die Eigentümer bzw. Halter der öffentlichen Fahrzeuge sind verpflichtet, an sichtbarer Stelle der Fahrzeuge ein Plakat zu befestigen mit der Aufschrift: "Für Juden verboten".

5.) Zuwiderhandlungen gegen diese Verordnung werden schärfstens bestraft.

6.) Diese Anordnung tritt mit dem heutigen Tage in Kraft.

Der Gebietskommissar der Stadt Wilna

gez. H i n g s t

Wilna, den 2.August 1941

aus: Reinhard Rürup (Hrg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941 - 1945, Eine Dokumentation zum 50.Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, Argon-Verlag, Berlin 1991, S. 88/89

Der „Judenrat“ - er bestand aus zehn Mitgliedern mit Shaul Trotzki und Anatol Fried als Vorsitzende - war nun verantwortlich dafür, dass die Anordnungen der deutschen Besatzungsbehörden ausgeführt wurden: Tragen eines „Judensterns“, nächtliche Ausgehverbote u.a. Arbeitsfähige Juden erhielten Bescheinigungen, die sie (und ihre Familien) vor der Erschießung schützen sollten. Personen ohne Bescheinigung wurden von litauischen Hilfstruppen aufgegriffen und ins Gefängnis gebracht; von dort ging es fast ausnahmslos zur Erschießung nach Ponary.

       Bildergebnis für vilna ghettoZweigeteiltes Wilnaer Ghetto (Abb. aus: pinterest.com)

Das Ghetto bestand aus zwei Teilen, dem Großen und dem Kleinen Ghetto, die voneinander durch die „Deitsche Straße“ getrennt waren. Die meisten aus dem Kleinen Ghetto – alte und arbeitsunfähige Menschen - wurden bereits im Sept./Okt. 1941 ermordet, zum großen Teil im nahe Vilnius gelegenen Ponary (heute ein Vorort der Stadt).

Als Referent für Judenangelegenheiten fungierte der erst 24jährige Franz Murer; er war der eigentliche Organisator und 'Herrscher' über das Ghetto. Der Gestapo-Offizier SS-Oberscharführer Horst Schweinberger war in Wilna Chef des Sonderkommandos des SD und leitete bis Anfang 1942 die Erschießungen der Juden in Ponary. Nach dessen Abberufung nach Berlin wurde sein Nachfolger dann SS-Hauptscharführer Martin Weiss, den man den "Herrn von Ponary" nannte.

Zu Beginn des Jahres 1942 schlossen sich die zionistischen Widerstandsgruppen in Wilna zur „Fareinikte Partisaner Organisatzije“ (FPO) zusammen, um bewaffneten Widerstand gegen die deutschen Besatzer zu leisten. Zuvor hatte die FPO versucht, die Menschen zur Rebellion aufzurufen und sich den Deportationen zu widersetzen. 

Lassen wir uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen !

Jüdische Jugend !

Glaubt nicht den Verführern. Von den 80.000 Juden im 'Jerusalem von Litauen' blieben nur 20.000. Vor unseren Augen haben sie uns unsere Eltern, Brüder und Schwestern entrissen.

Wo sind die Hunderte von Menschen, die von den litauischen Häschern zur Arbeit entführt wurden ?

Wo sind die nackten Frauen und ihre Kinder, die in der schrecklichen Nacht entführt wurden ?

... Alle Wege der Gestapo führen nach Ponary. Und Ponary ist der Tod !

Ihr Zweifler, laßt alle Illusionen fallen ! Eure Kinder, Männer und Frauen sind nicht mehr am Leben. Ponary ist kein Lager. 15.000 wurden dort durch Erschießen getötet.

Hitler beabsichtigt, alle Juden Europas zu vernichten. Es ist das Schicksal der Juden Litauens, als erste an der Reihe zu sein.

...

Es ist wahr, wir sind schwach und hilfslos, aber die einzige Antwort an den Feind lautet:

WIDERSTAND !

Brüder ! Lieber als freie Kämpfer fallen, als von der Gnade der Mörder leben. Widerstand leisten ! Widerstand bis zum letzten Atemzug !

1.Januar 1942. Wilna, im Ghetto.

Da die FPO aber nicht auf die Unterstützung der Mehrzahl der Ghettobewohner zählen konnte, zog sie sich in die Wälder der Umgebung zurück und schloss sich sowjetischen Partisanen an.

Im August 1943 begannen die deutschen Machthaber mit der Liquidierung des Ghetto. In mehreren Transporten wurden die verbliebenen Ghettobewohner nach Estland und Lettland verschleppt. Einen Monat später war das Ghetto Wilna vollständig geräumt.

 

Ghetto-Eingang (Aufn. aus: commons.wikimedia.org, CCO) und Straße im Ghetto Vilnius (Aufn. aus: wikipedia.org, CCO)

Anm.: Ein deutscher Feldwebel, Anton Schmid, versteckte etwa 350 Juden aus dem Ghetto Wilna; Schmid, der in Wilna für die 'Versprengten-Sammelstelle' zuständig war, wurde dabei im April 1942 entdeckt und von einem Kriegsgericht noch im gleichen Monat zum Tode verurteilt.

Der Wehrmachtsoffizier Karl Plagge – später als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt – rettete zahlreichen Juden das Leben, indem er sie vor bevorstehenden Liquidierungen informierte.

Mit dem Vorrücken der Roten Armee beeilte man sich von deutscher Seite, die Spuren der Massenerschießungen im Wald von Ponary zu beseitigen. Jüdische Gefangene wurden gezwungen, die Massengräber zu öffnen und die Leichen zu verbrennen; die Leichen von etwa 80.000 Menschen wurden exhumiert und anschließend verbrannt. - Am 13.Juli 1944 erreichten sowjetische Truppen die Stadt. Noch zehn Tage vor der Befreiung Wilnas wurden die Juden der Arbeitslager der Umgebung im Wald von Ponary umgebracht. Von den 57.000 Juden Wilnas haben nur etwa 2.000 - 3.000 Personen überlebt; ein Drittel von ihnen war vorher in die Wälder geflohen, der Rest kehrte aus den KZs Estlands und Deutschlands in die Stadt zurück. In Folge der Schreckensherrschaft während des Zweiten Weltkrieges ist das jüdische Leben Litauens weitestgehend ausgelöscht; von den ehemals mehr als 200.000 Juden leben heute in Litauen nur noch ca. 4.000 (Stand 2021). Trotz der Emigration versuchen die wenigen hier verbliebenen Juden die Erinnerung an die jüdische Kultur wach zu halten.

 Das Gebäude des Staatlichen Jüdischen Museums in Vilnius (neu eingerichtet 1989 als 'Vilna Gaon Museum') beherbergt eine ständige Sammlung mit Erinnerungsstücken der ehemaligen Großen Synagoge (Aufn. Chr. Michelides, 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0). - Zu Beginn des Jahres 2024 wurde in Vilnius ein Museum eröffnet, das über das Leben im „Jerusalem des Nordens“ informiert; im neuen ‚Litwaken-Museum‘ werden den Besuchern jüdische Kultur in allen Facetten nahegebracht.

Von den mehr als 100 Synagogen der Stadt ist nur eine einzige erhalten geblieben und hat die deutsche und sowjetische Besatzungszeit überstanden. Die sog. Chor(al)-Synagoge war 1903 eingeweiht worden; das mit maurischen Elementen versehene Gebäude war ein Werk des Architekten Dawid Rosenhaus.

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Choral-Synagoge (Aufn. Kontis Satunas, 2008, aus: wikipedia.org, CCO  und  F., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.0)

2019 wurde diese Synagoge – sie war bislang die einzig noch genutzte des Landes – geschlossen.

Von den drei jüdischen Friedhöfen ist einer noch erhalten (mit mehr als 6.500 Grabstellen); die beiden anderen wurden in der Nachkriegszeit von den Sowjets zerstört.

Datei:Jewish cemetery vilnius.JPGNeuer jüdischer Friedhof (Aufn. R. 2005, aus: wikipedia,.org, CC BY-SA 3.0)

Den Standort des Alten Jüdischen Friedhofs markiert ein aus zahlreichen steinernen Stelen bestehendes Mahnmal. Auf dem ehemals ca. 11 ha großen Begräbnisareal wurden im Laufe seines Bestehens etwa 70.000 Menschen beerdigt.

Mahnmal (Aufn. Alma Pater, 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Als erster baltischer Staat hat sich Litauen dem europaweiten Projekt von Gunter Demnig angeschlossen. Mehrere „Steine des Gedenkens“ („Stolpersteine") erinnern stellvertretend an alle Holocaust-Opfer.

Stolperstein für Lejba Semiavicius (Vilnius).jpgStolperstein für Leja Semiaviciute (Vilnius).jpgStolperstein für Chaja Semiaviciene-Shochot (Vilnius).jpgStolperstein für Icchokas Rudasevskis (Vilnius).jpg

Abb. Chr. Michelides, 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0

Im Keller der katholischen St.-Georgs-Kirche von Vilnius wurden 2017 mehr als 170.000 Dokumente entdeckt, die u.a. auch der jüdischen Vorkriegsgemeinde gehörten. Diese Schriften, Bücher etc. waren dort nach Kriegsende von den Sowjets eingelagert worden.

2018 wurden bei Tiefbauarbeiten Reste der ehemaligen Großen Synagoge freigelegt. Das 1944 ausgebrannte Gebäude war in der Folgezeit von den sowjetischen Behörden schrittweise abgetragen und schließlich dem Erdboden gleichgemacht worden. Auf dem freigewordenen Areal errichtete man einen Kindergarten bzw. eine Schule. Seit 2011 werden auf dem Gelände Grabungen unternommen; 2019 wurden hier hebräische Inschriften der Großen Synagoge entdeckt. Die Fundstücke sollen künftig in einer Ausstellung präsentiert werden.

 

 

In Paneriai bei Vilnius (poln. Ponary) befindet sich eine Holocaust-Gedenkstätte. Auf dem Gelände fanden 1941/43 Massenexekutionen statt, die von der deutschen Besatzungsmacht und deren litauischen Kollaborateuren durchgeführt wurden. Neben 70.000 Juden sollen hier ca. 20 Polen und ca. 10.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet worden sein. Mehrere Mahnmale erinnern heute an die Massenmorde.

vgl. dazu: Paneriai/Ponary – Gedenkorte Europa 1939-1945, online abrufbar unter: gedenkorte-europa.eu/de_de/paneriai.html

 

 

 

Im nahegelegenen Trakai existieren noch alte Holzhäuser einer ehemaligen Karäersiedlung (einer jüdischen Sekte) sowie eine Kenesa (Synagoge). Diese jüdische Sekte erkennt nur den ersten Teil des Alten Testaments als ‚heiliges Buch‘ an und lehnte jedwede andere religiöse Quelle – wie Talmud oder rabbinische Tradition - ab. Im Jahre 1397 hatte Großfürst Vytautas die Karäer als Palastwache von der Krim mit nach Trakai gebracht, wo sie über Jahrhundert hinweg ihre eigenen religiösen 'Gesetze' lebten.

Synagoge in Trakai (Aufn. Dezidor, 2008, aus: wikipedia.org, CC BY 3.0)

In Trakai leben heute ca. 60 der in Litauen insgesamt gezählten ca. 250 Karäer (oder Karaimen); damit ist Trakai das kulturelle und religiöse Zentrum der jüdischen Strömung der Karaimen; vor allem ältere Bewohner sprechen noch die karaische Sprache (Turksprache).

 

 

 

Im litauischen Telsiai (dt. Telsche/Telse) lebten vor Beginn des 2.Weltkrieges etwa 2.800 Juden, die etwa ein Drittel der Ortsbevölkerung ausmachten. Nach der deutschen Okkupation wurden die meisten Männer von einem deutschen Einsatzkommando und litauischen Kollaborateuren ermordet; Frauen und Kinder in Lager verbracht und zu Zwangsarbeiten herangezogen; nur sehr wenige überlebten.

In Telsiai besteht ein Projekt, die im Jahre 1873/1875 eröffnete Yeshiva wieder aufzubauen.

Bis zur sowjetischen Besetzung Litauens existierte hier eine Jeschiwa, die unter Leitung von Rabbiner Joseph Leib Bloch in den Jahren von 1910 bis 1930 einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte. Mit dem Konzept, traditionelle und moderne weltliche Inhalte zu lehren, wurde diese Jeschiwa für andere prägend. Nach der Schließung der Jeschiwa verließen 1940 die meisten Studenten Telšiai. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht (Juni 1941) konnten die noch hier verbliebenen Dozenten/Studenten sich in die Sowjetunion flüchten.

Gebäude des Rabbinerseminar (hist. Aufn., aus: wikipedia.org, CCO)

 

 

 

In Georgenburg a. d. Memel (lit. Jurbarkas; jidd. Yurburk) – nordwestlich von Vilius, in Grenzlage zu Ostpreußen – war jahrhundertelang ein Ort, in dem zahlreiche Nationalitäten sich ansiedelten und vermischten. Juden waren hier besonders zahlreich vertreten. Die ersten Familien sollen hier bereits um 1600 gelebt haben; um 1650 sind zehn jüdische Familien urkundlich belegt. Auf Grund der günstigen Verkehrslage an der Memel prosperierte die Stadt. Anfang der 1860er Jahre wurden hier mehr als 2.500 jüdische Einwohner gezählt.

Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein Friedhof und eine aus Holz erstellte Synagoge (erbaut um 1790).

Synagoge Georgenburg, Lithographie um 1870 (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)

Drei Schulen in der Stadt standen den jüdischen Kindern zur Verfügung.

Während des Ersten Weltkrieges verließen viele Juden die Stadt und gingen zumeist in die Emigration. In den Folgejahren vergrößerte sich aber wieder die Zahl der jüdischen Bewohner.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten in der Stadt mehr als 2.000 Juden und machten damit etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Fast alle Geschäfte/Handelsunternehmen befanden sich damals in jüdischem Besitz.

Nach der deutschen Okkupation (Sommer 1941) wurde die jüdische Bevölkerung von litauischen Nationalisten zu Zwangsarbeit herangezogen bzw. umgebracht. Vor ihrer Ermordung waren die Juden noch gezwungen worden, ihre Synagoge niederzureißen.

Vor wenigen Jahren wurde der jüdische Friedhof restauriert; seit 2006 erinnert ein neuerstelltes Tor aus gelben Ziegeln an den einstigen Eingang der Begräbnisstätte.

vgl. dazu: Georgenburg/Memel (Litauen)

 

 

Litauens Regierung hat die Absicht erklärt, Entschädigungszahlungen an Juden zu leisten, die vor oder im Zweiten Weltkrieg im baltischen Staat lebten und von totalitären Regimen enteignet wurden. Der von der Regierungschefin Ingrida Simonyte vorgelegte Gesetzentwurf sieht eine "symbolische" Entschädigung von 37 Mio. Euro vor (Stand 2022).

 

 

 

Weitere Informationen:

Yitzhgak Arad, The Judenräte in the Lithuanian Ghettos of Kovno and Vilna, in: I.Gutman/C.J.Haft (Hrg.), Pattern of Jewish Leadership in nazi Europe 1933 – 1945, Jerusalem 1979, S. 93 - 112

Yitzhak Arad, Ghetto in Flames: The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust, Yad Vashem, Jerusalem 1980

Letas Palmaitis, Juden in Litauen - Ein Abriß über die Geschichte der Lite und die Blütezeit der jüdischen Kultur 1918 - 1941, in: "Zeitschrift Osteuropa", 52.Jg., Heft 9/10, S. 1326 f.

Joachim Tauber, ‘Juden, Eure Geschichte auf litauischen Boden ist zu Ende!’ Litauen u. der Holocaust im Jahre 1941, in: "Zeitschrift Osteuropa", 52.Jg., Heft 9/10

Abraham Sutzkever, Das Ghetto von Wilna, in: W. Grossmann/I.Ehrenburg (Hrg.), Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1994

Carol Herselle Krinsky, Europas Synagogen. Architektur, Geschichte und Bedeutung, Wiesbaden 1997, S. 99/100, S. 196 - 198 und S. 214 - 21

Sima Skurkovitz, Simas Lieder - Hoffnung und Trost in Finserer Nacht, Hrg. Christians Friends of Israel, Jerusalem 1997 (Anmerkung: Die Originalausgabe in jiddischer und hebräischer Sprache erschien unter dem Titel “Ein Wilnaer Mädchen in den Krallen der Nazis”, Jerusalem 1989)

Schoschana Rabinovici, Dank meiner Mutter - Ein Bericht vom Überleben der Wenigen in Ghetto, Konzentrationslagern und auf dem Todesmarsch, Alibaba-Verlag, Frankfurt (Schulausgabe), S. 34 ff.

Sage nie, Du gehst den letzten Weg - Der Genozid an den litauischen Juden 1941-44, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1998, Ausstellungskatalog, S. 17 ff.

Wladimir Porudominskij (Bearb./Hrg.), Die Juden von Wilna – Aufzeichnungen des Grigorij Schur 1941 – 1944, Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1999

Julius H. Schoeps (Hrg.), Neues Lexikon des Judentums, Gütersloher Verlagshaus, Güterloh 2000, S. 868/869

Ferdinand Dexinger (Bearb.), Ein Chanukka anderer Art, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 51 (Dez. 2001)

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York, 2001, Vol. 3, S. 1398 - 1403

Immanuel Etkes, The Gaon of Vilna - The Man and His Image, University of California Press, 2002

Petra Peckl, Wie die Schafe zur Schlachtbank? Jüdischer Widerstand im Ghetto von Vilnius, in: V. Bartusevicius/J.Tauber/W.Wette (Hrg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1944, Köln 2003, S. 171 – 185

Marianne Viefhaus (Red.), Zivilcourage in der Zeit des Holocaust. Karl Plagge - ein Gerechter unter den Völkern, hrg. von der Darmstädter Geschichtswerkstatt e.V. und der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Darmstadt 2005

Michael Good, Die Suche. Karl Plagge - der Wehrmachtsoffizier, der Juden rettete (2006 in deutscher Übersetzung erschienen)

Abraham Sutzkever, Wilner Ghetto 1941 – 1944, Zürich 2009

Andrea Fiedler-Boldt, Juden in Litauen, aus: „Baltische Rundschau“ vom 27.1.2010

Eugen Lempp (Red.), Das Ghetto von Wilna, online abrufbar unter: zukunft-braucht-erinnerung.de/das-ghetto-in-wilna/ (2012)

Alfonsas Eidintas, Jews, Lithuanians and the Holocaust, Vilnius 2012

Joel Alpert, Yurburg (Lithuania), Materialiensammlung

Vilna Gaon Museum of Jewish history, online unter: jmuseum.lt/en/  (informativ und aktuell)

Auflistung der in Vilnius verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Litauen#Vilnius

Mordechai Zalkin (Bearb.), Vilnius, in: The Yivo Encycopedia of Jews in Eastern Europa, online abrufbar unter: yivoencyclopedia.org/article.aspx/Vilnius (engl. Übersetzung von Barry Walfish)

Holocaust in Jurbarkas. Die Massenvernichtung der Juden von Jurbarkas in den Provinzen Litauen während der deutschen Nazi-Besatzung (online abrufbar)

Litauen wird Teil des größten Open-Air Holocaust-Mahnmals Europas (2016), online abrufbar unter: liberties.eu/de/news/stolpersteine-in-litauen

Birgit Johannsmeier (Red.), Dokumente im Kirchenkeller. Ein spektakulärer Fund belegt, wie stark stark jüdisches Leben die Entwicklung des Landes voranbrachte, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 26.7.2018

N.N. (Red.), Wichtiger Teil der Großen Synagoge von Vilinius gefunden, in: „Salzburger Nachrichten“ vom 26.7.2018

Andreas Stangl (Red.), Synagoge in Vilnius: Ein Ort des Glaubens und Erinnerns, in: „Der Standard“ vom 19.10.2018

N.N. (Red.), Jerusalem/Vilnius. „Kommt nicht infrage“. Israels Premier Netanjahu möchte Überreste des Gaons von Wilna nach Israel holen – Litauen lehnt ab,, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 4.2.201

N.N. (Red.), Hebräische Inschriften in Synagoge von Vilnius entdeckt, in: deutschlandfunk.de vom 23.7.2019

N.N. (Red.), Einzig funktionierende Synagoge von Litauen geschlossen, in: tachles.ch vom 8.8.2019

Jewish cemeteries in Vilnius, online abrufbar unter: vilniuswithlocals.com/activities/post/jewish-cemeteries-in-vilnius (von 2020)

Redaktion Baltische Rundschau, Baltikum: Litauen stellt sein reiches historisches Erbe auf einer virtuellen Landkarte vor, in: „Baltische Rundschau“ vom 31.5.2021

dpa (Red.), Archäologen finden zentralen Teil der Großen Synagoge in Vilnius, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 25.8.2021

Gabriele Lesser (Red.), Geheimnisvolles Antlitz – Zum 300.Geburtstag des Gaon von Wilna zeigt das Jüdische Historische Institut eine Ausstellung über den Gelehrten, in: “Jüdische Allgemeine” vom 12.4.2022

apa (Red.), 37 Mio. Euro: Litauen will neue Entschädigungszahlungen an Juden leisten, in: “Die Presse” vom 23.11.2022

dpa (Red.), Vilnius. Litauen begeht erstmals Gedenktag für Retter von Juden, in: “Jüdische Allgemeine” vom 16.3.2023

N.N. (Red.), Vergessene Geschichte, in: “tachles – das jüdische Wochenmagazin” vom 29.9.2023

Gerhard Gnauck (Red.), Museum für Litauens Juden – Jerusalem im Norden, in: “Frankfurter Allgemeine” vom 16.1.2024

N.N.(Red.), Informationen über das Leben – Tagebuch eines 13jährigen Jungen aus dem Wilnaer Ghetto gibt neue Einblicke in die Kriegswirren, in: “tachles – das jüdische Wochenmagazin” vom 28.7.2024

N.N. (Red.), Überreste der Großen Synagoge freigelegt, in: “Damals – Magazin” vom 30.7.2024