Windecken (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Hanau/Main (Hessen)Main-Kinzig-Kreis Karte Windecken mit seinen ca. 7.000 Einwohnern ist heute ein Stadtteil von Nidderau im osthessischen Main-Kinzig-Kreises – knapp 20 Kilometer nördlich von Hanau/Main gelegen (Ausschnitt aus hist. Landkarte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis', aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).

 

Die Dörfer Heldenbergen und Windecken gehörten im 19.Jahrhundert zu den hessischen Landgemeinden mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Beide Dörfer sind heute Ortsteile von Nidderau.

Die jüdische Gemeinde Windeckens war die älteste und größte Gemeinde im Gebiet der Herrschaft der Grafen von Hanau; bereits zur Zeit der Verleihung der Stadtrechte um 1290 lebten hier möglicherweise Juden; über ihr Leben ist allerdings wenig bekannt.

Während der Pestpogrome von 1348/1349 wurden die Juden aus Windecken vertrieben bzw. am Ort erschlagen; ein anderer Grund für ihre Verfolgung soll der Brand im Archiv des Grafen von Hanau gewesen sein, für den die Juden verantwortlich gemacht und bei dem wichtige Privilegienbriefe vernichtet worden waren.

Erst im Laufe des 15.Jahrhunderts sind erneut Ansiedlungen von „Schutzjuden“ in Windecken belegt; die meist auf drei Jahre ausgestellten Schutzbriefe erhielten die Windecker Juden gegen Zahlung des Schutzgeldes. Auch mussten sie bestimmte Fronleistungen erbringen. Ausgenommen von derartigen Zahlungen waren Totengräber und Schulklopfer; so hieß es in einem Verzeichnis der aufgeführten Schutzbriefinhaber von 1583: „Der schulklepper und thodtengreber seind gar arme, nhemen khein schirmbrief, dan die jüden mögen sie beurlauben, wan sie wollen.“

Wie alle anderen Juden in der Grafschaft erhielten auch die Juden Windeckens im Jahre 1591 eine Ausweisungsorder, der jedoch nicht alle folgten. Bereits drei Jahre später wurden dann die Juden wieder in den Schutz der Grafschaft genommen. Ihren Lebensunterhalt verdienten die Windecker Juden in dieser Zeit im Geldhandel, im Viehgeschäft und in einigen Handwerken. Dabei gerieten sie oft in Konflikt mit den christlichen Bewohnern, die ihrerseits gegen die lästige jüdische Konkurrenz vorgingen. Die Windecker Juden lebten - ghettoartig zusammengefasst - in drei Gassen im Südosten der Altstadt; für die von ihnen bewohnten Häuser mussten sie einen Mietzins an die Stadt Windecken entrichten, zudem noch eine Sonderzahlung für die Erhaltung öffentlicher Einrichtungen wie Brunnen und Brücke. Erst ab Beginn des 17.Jahrhundert durften Windecker Juden eigenen Grund und Boden bzw. Wohnhäuser in der „Judengasse“ erwerben. Im Laufe des 19.Jahrhunderts löste sich das ghettoartige Wohngebiet allmählich auf.

Ihre erste Synagoge („judden schule“) richtete die Windecker Judenschaft Anfang des 15.Jahrhunderts ein. Nach vorübergehender Schließung wurde diese 1603 wieder eröffnet und blieb bis 1938 das Zentrum der Windecker israelitischen Gemeinde. Aus einer Beschreibung des Reiseführers „Jüdische Wanderungen” aus dem Jahre 1938:

„ ... Die stattliche Synagoge, wohl eine der ältesten Deutschlands, an der Bragasse, der schon 1356 erwähnten Judengasse, die erst 1920 Synagogengasse genannt wird und 1933 ihren heutigen Namen erhielt. Die Judengasse bildete ungefähr ein Quadrat, dessen eine Seite von der Festungs- mauer abgeschlossen wurde. Die einstigen Judenhäuser der drei anderen Seiten, sehr stattliche und meistens ausgezeichnet erhaltene Fachwerkbauten, umgeben die Synagoge, die natürlich mehrfach, aber immer auf den alten Fundamenten erneuert worden ist. Vor etwa 300 Jahren wurde ihr ein Fachwerkbau, wohl als Gemeindehaus und Beamtenwohnung angegliedert. Vielleicht 100 Jahre später schloß sich ein Schulhaus an. Zwischen diesem und der Synagoge, mit beiden baulich fest verbunden, liegt das schon lange unbenutzte rituelle Quellbad. ...”

                

Rekonstruktionsskizzen der ehem. Synagoge (Frank Schmidt, 1985)

Bis ca. 1880 war in Windecken eine jüdische Elementarschule existent, danach wurde sie als Religionsschule betrieben. Ein angestellter Lehrer sorgte auch für die Verrichtung religiös-ritueller Aufgaben der Gemeinde. Als langjährig in Windecken tätiger Lehrer ist Samuel Neumark (geb. 1808) bekannt, der hier mehr als vier Jahrzehnte bis zu seinem Tode (1880) wirkte. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurden die wenigen jüdischen Kinder von auswärtigen Lehrern unterrichtet.

  Anzeigen aus: „Der Israelit“ vom 10.9.1900 und 21.3.1907

Etwa ab 1900 waren die Juden der Ortschaft Ostheim der Windecker Gemeinde angeschlossen.

Der jüdische Friedhof in Windecken war 1497 angelegt worden; zuvor wurden Verstorbene auf dem israelitischen Friedhof in der Frankfurter Battonstraße beerdigt. Der Windecker Friedhof - gegenüber dem christlichen Friedhof gelegen - diente in den folgenden Jahrhunderten auch anderen Ortschaften der Grafschaft Hanau als zentrale Begräbnisstätte, so für Verstorbene aus Bergen, Bockenheim, Heldenbergen, Ostheim und Marköbel. Allein in den Jahren 1825 bis 1925 sollen hier ca. 200 Begräbnisse vorgenommen worden sein.

Juden in Windecken:

         --- um 1430 ........................ 5 - 7 jüdische Familien,

    --- um 1545 ........................   4       “       “    ,

    --- 1563 ...........................  12       “       “    ,

    --- 1632 ...........................  28       “       “    ,

    --- 1707 ...........................  26       “       “    ,

    --- 1827 ........................... 112 Juden (ca. 9% d. Bevölk.),

    --- 1842 ........................... 128   “  ,

    --- 1850 ........................... 192   “   (ca. 11% d. Bevölk.),

    --- 1871 ...........................  57   "   (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1890 ...........................  60   “  ,

    --- 1904 ...........................  55   “   (ca. 3% d. Bevölk.),

    --- 1929 ...........................  47   “  ,

    --- 1933 (Juni) ....................  44   “  ,

    --- 1936 ....................... ca.  20   “  ,

    --- 1937 (Nov.) ....................  15   “  ,

    --- 1938 (Nov.) ....................  12   “  ,

    --- 1939 (Mai) .....................   6   “  ,

    --- 1941 (Dez.) ....................   keine.

Angaben aus: Monica Kingreen, Jüdisches Landleben in Windecken, Ostheim und Heldenbergen, S. 73

Windecken Kirchen 1810.jpg

Blick auf Windecken um 1810 (Abb. Windecker Geschichtsverein, in: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

1835 kam es in Windecken zu einem Pogrom gegen die hier ansässigen jüdischen Familien; Grund der gewalttätigen Übergriffe waren Auseinandersetzungen um die Erteilung der bürgerlichen Rechte für Juden, die sich in Windecken auf die Holznutzung des Bürgerwaldes fokussierten. Nachdem die jüdischen Bewohner zuvor Drohbriefe erhalten hatten, schlug der Mob Fenster und Türen von 16 Häusern ein.

Ende des 19.Jahrhunderts hinterließ die antisemitische Bauernbewegung um Otto Böckel auch in Windecken Spuren. Mit der Parole „Bauern macht euch frei vom jüdischen Zwischenhandel” zog Böckel von Dorf zu Dorf und organisierte judenfeindliche Kundgebungen, so auch im März 1891 in Windecken. Dabei kam es hier zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Anhängern der Sozialdemokratie, die nur durch Polizei- und Militäreinsatz beendet werden konnten. Den Juden wurde vorgeworfen, die sozialdemokratischen „Randalierer“ für ihre Zwecke missbraucht zu haben. Die Integration der jüdischen Minderheit in die kleinstädtische Gesellschaft war um 1900 aber weitestgehend vollzogen: Juden fungierten als Stadtverordnete, gehörten lokalen Vereinen an und ihre Kinder besuchten seit 1880 gemeinsam mit christlichen Kindern die Windecker Schule.

           Schächter Sally Katz aus Windecken, 2. v. links (Aufn. 1903)

Zwei Lehrstellenangebote von 1898 und 1906

Nach der NS-Machtübernahme 1933 dauerte es nur kurze Zeit, dass das „rote“ Windecken - nach Gleichschaltung auf allen örtlichen Bereichen - „braun“ wurde. Am 1.April 1933 wurde auch hier - derzeit lebten noch ca. 45 Juden im Ort - der Boykott jüdischer Geschäfte durchgeführt. In den folgenden Jahren gingen die jüdischen Geschäfte zunehmend in „arische“ Hände über, weil immer weniger Windecker sich trauten, in jüdischen Geschäften ihre Einkäufe zu machen, und so die jüdischen Geschäftsleute in den Ruin trieben. Schilder wie „Juden unerwünscht” und offene Gewaltakte drängten die jüdischen Einwohner ins Abseits und schließlich ganz aus der Stadt heraus; einige verzogen nach Frankfurt/M., andere gingen in die Emigration.

Zur Zeit des Novemberpogroms von 1938 lebten nur noch zwölf Juden in Windeck. Nach einem am 9.November misslungenen Brandanschlag auf die Synagoge hatten die Brandstifter am folgenden Tage mehr Erfolg: Nachdem der Dachstuhl in Brand gesetzt worden war, brannte das Gebäude völlig nieder; das Gemeindehaus fiel ebenfalls den Flammen zum Opfer. Die herbeigeeilte Feuerwehr beschränkte sich darauf, angrenzende Häuser vor einem Übergreifen des Feuers zu schützen. Vor der Brandlegung war die Inneneinrichtung der Synagoge zertrümmert worden; nur wenige Kultgegenstände konnten aus dem Gebäude in Sicherheit gebracht werden. Wenig später wurden die Trümmer aus dem Ortsbild entfernt und die dafür angefallenen Kosten der jüdischen Gemeinde in Rechnung gestellt. Während des Krieges wurde auf dem früheren Synagogengelände ein Feuerlöschteich angelegt. Auch Ausschreitungen gegen jüdische Familien sind aus den Novembertagen des Jahres 1938 bezeugt: Fensterscheiben wurden eingeworfen sowie Wohnungen geplündert und demoliert. Während des Novemberpogroms wurde auch der jüdische Friedhof geschändet, Grabsteine umgeworfen und auch zerstört. Nach dem alsbaldigen Verkauf des Friedhofsgeländes an die Stadt Windecken wurden die Grabsteine an einen hiesigen Steinmetz veräußert; auf dem Gelände wurde ein NSV-Kindergarten eingerichtet.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 24 jüdische Personen genannt, die entweder in Wöllstein geboren wurden oder in den 1930er-Jahren dort gelebt haben und in der NS-Zeit gewaltsam ums Leben kamen; aus Ostheim wurden 14 Personen mosaischen Glaubens Opfer der "Endlösung" (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/windecken_synagoge.htm).

 

undefinedhttp://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20197/Windecken%20Friedhof%20173.jpg Auf dem jüdischen Friedhof sind heute nur noch drei Grabsteine erhalten; die anderen blieben "verschollen" (Aufn. L. 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0). Gegen Ende der 1950er Jahre wurde hier ein Gedenkstein errichtet (Aufn. J. Hahn, 2009), der die Aufschrift trägt:

Zum Gedenken

der Toten der jüdischen Gemeinden Windecken und Ostheim.

 

An einer Mauer, die auf dem Synagogengrundstück errichtet wurde, erinnert eine Bronzetafel an die Geschichte der einstigen jüdischen Gemeinde von Windecken; die längere Inschrift lautet:

Den Toten zum Gedenken   den Lebenden zur Mahnung

An dieser Stelle standen die im Jahre 1481 erbaute Synagoge, das Judenbad, das Gemeindehaus und die Schule der Juden von Windecken und Ostheim.

Die Synagoge - als Museum und Kleinod des hessischen Judentums bezeichnet - wurde am 9.November 1938 niedergebrannt und zerstört.

Die Jüdische Gemeinde hatte im 1.Weltkrieg drei Gefallene: Sigmund Jacob, Siegfried Katz und Joseph Wolf.

Letzter Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde war Salli Reichenberg, dem im ersten Weltkrieg für seinen Militärdienst das Eiserne Kreuz II.Klasse verliehen wurde.

In den zwanziger Jahren hatte Windecken zwei jüdische Stadtverordnete: Moritz Müller und Felix Schuster.

Durch die nationalsozialistische Diktatur ihrer Existenzgrundlagen beraubt, wanderten viele jüdische Mitbürger aus. Nicht alle konnten ihr Leben durch Flucht aus ihrer Heimat retten. Die letzten noch in Windecken verbliebenen jüdischen Mitbürger, darunter Salli Reichenberg, wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet.

Wir trauern um das Leid aller Windecker und Ostheimer Juden.                                               Schalom

Seit 1988 steht auf dem ehemaligen Synagogengrundstück eine evangelisch-methodistische Kirche.

In vier Verlegeaktionen wurden seit 2008 insgesamt 80 sog. „Stolpersteine“ in den Nidderauer Stadtteilen Heldenbergen, Windecken und Ostheim in die Gehwege vor dem letzten selbst gewählten Wohnort der ehemaligen jüdischen Bürger eingefügt (Stand 2023); in den Gehwegen von Windecken findet man 17 Steine.

Stolpersteine Windecken Eugen-Kaiser-Straße 7.jpgStolpersteine Windecken Ostheimer Str 1.jpgStolperstein Windecken Glockenstraße 6.jpg

verlegt in der Eugen-Kaiserstraße, Ostheimer Straße und Glockenstraße (alle Aufn. J.w., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

An das ehemalige jüdische Wohngebiet und die Synagoge erinnert heute die „Synagogenstraße“ in Windecken.

 

 

In Heldenbergen - einem anderen Ortsteil von Nidderau - war auch eine jüdische Gemeinde beheimatet.

[vgl. Heldenbergen (Hessen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 907 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 1648 - 1653

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 406 f.

Monica Kingreen, Jüdisches Landleben in Windecken, Ostheim und Heldenbergen, Hrg. Stadt Nidderau, CoCon-Verlag, Hanau 1994

Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 345/346

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M.1995, S. 219/220

Windecken mit Erbstadt und Ostheim, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Peter Gbiorczyk, Die Entwicklung des Landschulwesens in der Grafschaft Hanau von der Reformation bis 1736. Die Ämter Büchertal und Windecken. 2 Bände, Aachen 2011 (darin: 18.1 Schulunterricht in der jüdischen Gemeinde Windecken)

Peter Gbiorczyk, "Zur Ehre Gottes und zum gemeinen Nutzen“ - Das Landschulwesen unter Graf Philipp Ludwig II. von Hanau–Münzenberg (1576 – 1612), Jüdischer Unterricht in Windecken und als Privatunterricht, Aufsatz 2012 (online abrufbar)

Stadt Nidderau (Hrg.), Das Stolperstein-Projekt in Nidderau, online abrufbar unter: nidderau.de/freizeit-kultur-tourismus/geschichte/stolpersteine/ (2012)

Auflistung der in Nidderau und den Stadtteilen Windecken und Ostheim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Nidderau

Eckhard Meise (Bearb.), Die Windecker Synagoge in den Jahren um 1600, in: „Magazin für Hanauische Geschichte 2022“, S. 142 - 148