Stadtallendorf, früher: Allendorf (Hessen)

Datei:Marburg-Biedenkopf Stadtallendorf.png Stadtallendorf (früher Allendorf) ist heute eine hessische Kleinstadt mit derzeit ca. 21.500 Einwohnern im Osten des Landkreises Marburg-Biedenkopf - etwa 20 Kilometer südöstlich von Marburg gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Marburg-Biedenkopf', Andreas Trepte 2006, aus: wikipedia.org, CC-BY-SA 2.5).

 

Die ersten urkundlichen Hinweise auf einzelne jüdische Bewohner Allendorfs stammen aus der Mitte des 17.Jahrhunderts; in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts zogen aus anderen Orten vertriebene Familien in den Ort, der damals unter Kurmainzer Herrschaft stand.

Bis Mitte des 19.Jahrhunderts bildeten die Juden Allendorfs zusammen mit denen aus den Ortschaften Erksdorf, Hatzbach und Speckswinkel einen Synagogenverband; danach gründeten die Judenschaften der genannten Orte autonome Kultusgemeinden.

Anmerkungen: 

In Erksdorf lebten von ca. 1650 bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jeweils ein bis zwei jüdische Familien. Anfang der 1860er Jahre sollen dann im Dorf etwa 40 jüdische Einwohner ansässig gewesen sein. In den Jahrzehnten danach haben fast alle jüdischen Familien das Dorf wieder verlassen. Der letzte jüdische Dorfbewohner, der Kaufmann Siegmund Stern, verstarb hier 1924.

Seit dem 17.Jahrhundert haben nachweislich einzelne Juden in Hatzbach gelebt, die von der Adelsfamilie von Knoblauch aufgenommen worden waren; 1629 und 1684 gab es jeweils vier Familien im Dorf. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert wurden maximal 70 jüdische Bewohner gezählt, die dann in größere Orte ab- bzw. ausgewandert sind. 1925 sollen keine Juden mehr in Hatzbach ansässig gewesen sein.

Eine eigenständige Synagogengemeinde Allendorf bestand seit Ende der 1850er Jahre. In einem älteren Hofgebäude war ein Synagogenraum eingerichtet. Der zweigeschossige Fachwerkbau in der Mittelstraße im alten Ortskern unterschied sich äußerlich nicht von den umliegenden Gebäuden.

              Ehem. Synagogengebäude (Aufn. aus: Thea Altaras, um 1985)

Eine Mikwe soll es bis etwa 1830 in Allendorf gegeben haben. - Ihre verstorbenen Glaubensgenossen beerdigten die Juden Allendorfs - jahrhundertelang auf dem zentralen jüdischen Friedhof im benachbarten Hatzbach; erst 1918 wurde in Allendorf ein eigener Begräbnisplatz angelegt.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20150/Stadtallendorf%20Friedhof%20116.jpg Gräberreihe - jüdischer Friedhof Stadtallendorf (Aufn. J. Hahn, 2008)

Juden in (Stadt)Allendorf:

--- um 1785 .......................   2 jüdische Familien,

--- 1815 ..........................   4     “        “   ,

--- um 1840 .......................  27 Juden,

--- 1885 ..........................  39   “  ,

--- 1895 ..........................  41   "  ,

--- 1905 ..........................  47   “  ,

--- 1924 ..........................  29   “  ,

--- 1933 ..........................  33   “  (in 8 Familien),

--- 1939 ..........................  12   “  ,

--- 1941 ..........................  11   "  ,

--- 1942 ..........................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 27

und                 Stadtallendorf, in: alemannia-judaica.de

 

Zu Beginn der NS-Zeit lebten acht jüdische Familien im Ort; ihren Lebensunterhalt verdienten sie zumeist im Viehhandel und im Metzgereigewerbe.

Bis Kriegsbeginn soll den meisten jüdischen Bewohnern die Emigration nach Übersee gelungen sein; die etwa zehn in Stadtallendorf verbliebenen Juden wurden 1941/1942 deportiert.

Der noch mehrere Jahre während der NS-Zeit genutzte Synagogenraum wurde während des Novemberpogroms von 1938 nicht zerstört; die Kultgeräte waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach Marburg ausgelagert worden, wo sie zerstört wurden

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden 18 gebürtige bzw. längere Zeit im Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/stadtallendorf_synagoge.htm).

In Stadtallendorf befand sich während des Krieges das „Lager Münchmühle“, in dem Zwangsarbeiter für die Allendorfer Rüstungsbetriebe gefangengehalten wurden. 1944/45 war auch ein Außenkommando des KZ Buchenwald hier eingerichtet worden, in dem etwa 1.000 ungarische, aus Auschwitz herantransportierte Jüdinnen Schwerstarbeit leisten mussten.

 

Die umgebaute ehemalige Synagoge diente nach 1945 als Lagerraum einer Bäckerei und als Wohnung; später nutzte ein anderer Gewerbetreibender das Gebäude. Auf dem jüdischen Friedhof am Läuserweg wurde 1985 von der Stadtverwaltung ein Stein aufgestellt, der folgende Inschrift trägt:

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

und an die jüdischen Opfer dieser Stadt

Auf dem gleichen Gelände erinnert ein Gedenkstein an mehr als 120 sowjetische Kriegsgefangene, die hier als Zwangsarbeiter verstorben waren.

Auch in Stadtallendorf und seinen Ortsteilen erinnern sog. "Stolpersteine" an Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft; derzeit findet man in der Kommune insgesamt ca. 70 Steine (Stand 2023).

Stolpersteine in der Schweinsberger Straße und Emsdorfer Straße (Aufn. Magistrat der Stadt Stadtallendorf, 2019)

 

 

 

In Niederklein - seit 1974 ein Ortsteil von Stadtallendorf - lebten ab dem 17.Jahrhundert vereinzelt jüdische Familien. Im 19.Jahrhundert gab es hier eine kleine Landgemeinde, der knapp zehn Familien angehörten. Niederklein bildete zunächst mit Schweinsberg eine Synagogengemeinde; so suchten die Niederkleiner Juden vermutlich bis Anfang des 19.Jahrhunderts Gottesdienste in Schweinsberg auf. Ihre Verstorbenen begrub die Gemeinde auf dem jüdischen Friedhof in Hatzbach, nach 1918 dann in Stadtallendorf.

1860 hatte die Gemeinde immerhin etwa 60 Angehörige gezählt, die ihren Lebensunterhalt zumeist im Vieh- und Kleinhandel verdienten.

          http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20195/Niederklein%20Israelit%2021031901.jpg Lehrlingsgesuch des Manufakturwarengeschäfts Stern (1901)

Nach 1900 wanderten die meisten ab. In den 1920er Jahren lebten im Dorf nur noch drei Familien mosaischen Glaubens mit ca. zehn Personen.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden acht jüdische Bewohner aus Niederklein Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/niederklein_synagoge.htm).

Im Jahre 2016 wurde in Niederklein zum Gedenken an die Angehörigen der ehemaligen jüdischen Gemeinde ein Gedenkstein mit -tafel gesetzt.

 

 

In Schweinsberg - ebenfalls heute ein Ortsteil von Stadtallendorf - werden Juden erstmals um 1775 erwähnt; bereits anlässlich der Verleihung der Stadtrechte 1332 hatte die dortige Herrschaft des Ruprecht Schenck zu Schweinsberg das Privileg erhalten, vier jüdische Familien aufnehmen zu können. Mitte des 18.Jahrhunderts lebten hier elf jüdische Familien. Die in Schweinsberg beheimatete neuzeitliche Gemeinde war stets klein; sie umfasste maximal 50 Personen. 1874 weihte die Gemeinde eine neue Synagoge ein, die einen während eines Stadtbrandes zerstörten älteren Bau ablöste. Seit Mitte des 19.Jahrhunderts verfügte die Gemeinde auch über einen eigenen Friedhof; zuvor waren Verstorbene in Rauischolzhausen beerdigt worden.

Anlässlich des 50jährigen Synagogen-Jubiläums erschien am 4. Dez. 1924 in der Zeitschrift "Der Israelit" der folgende Artikel:

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20151/Schweinsberg%20Israelit%2004121924.jpg

Zu Beginn der 1930er Jahre lebten kaum noch 30 Juden in Schweinsberg. Im November 1938 wurde ihre kleine Synagoge niedergebrannt und zerstört; noch zuvor hatte man Teile der Inneneinrichtung in den nahen Mühlgraben geworfen. Mit der Deportation der letzten 17 in Schweinsberg verbliebenen Juden 1942 endete die Geschichte der kleinen jüdischen Gemeinde.

Am jüdischen Friedhof informiert eine im Rahmen des "Historischen Stadtrundgang" angebrachte Tafel wie folgt:

1332 erhält Ruprecht Schenck zu Schweinsberg das Recht zu Ansiedlung von vier Juden; 1594 bezeugt ein schriftlicher Nachweis jüdische Bewohner und 1938 leben 21 jüdische Bürger in Schweinsberg. Am 8. November 1938, in der sog. „Reichskristallnacht“, wird die 1874 in der Biegenstraße errichtete Synagoge niedergebrannt und zerstört. Nach erzwungener Auswanderung, Deportation und Ermordung ist die jüdische Gemeinde 1942 zerschlagen.

 http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20150/Schweinsberg%20Friedhof%20154.jpg

Jüdischer Friedhof in Schweinsberg (Aufn. J. Hahn, 2008  und  Aufn. T., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

In den Gehwegen von Schweinsberg findet man sog. „Stolpersteine“; seit 2019 erinnern acht Steine an Angehörige der jüdischen Familien Feibelmann und Katz. Vier Jahre später fand die (vorerst) letztmalige Verlegung von messingfarbenen Steinquadern statt.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 27 f. und Bd. 2, S. 137f. und S. 292

Harald Horn (Hrg.), Allendorf unter dem Hakenkreuz, Stadtallendorf 1986

Alexandra Daniel, ‘Fürs Feuermachen gab’s als Dank ungesäuertes Brot’’, in: "Oberhessische Presse" vom 21.9.1988

B.Händler-Lachmann/U.Schütt, “unbekannt verzogen” oder “weggemacht”. Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933 - 1945, Marburg 1992

B.Händler-Lachmann/H.Händler/ U.Schütt, Purim, Purim, ihr liebe Leut, wißt ihr was Purim bedeut ? Jüdisches Leben im Landkreis Marburg im 20.Jahrhundert, Hitzeroth Verlag, Marburg 1995, S. 15/16

Kreisausschuß des Landkreises Marburg-Biedenkopf (Hrg.), Die ehemaligen Synagogen im Landkreis, Marburg-Biedenkopf, Marburg 1999, S. 114 ff.

Alfred Schneider, Die jüdischen Familien im ehemaligen Kreise Kirchhain. Beiträge zur Geschichte und Genealogie der jüdischen Familien im Ostteil des heutigen Landkreises Marburg-Biedenkopf in Hessen, Hrg. Museum Amöneburg, 2006 

Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein i. T. 2007, S. 234/235

Stadtallendorf mit Erksdorf, Hatzbach und Speckswinkel, in: alemannia-judaica.de

Niederklein, in: alemannia-judaica.de

Schweinsberg, in: alemannia-judaica.de

N.N. (Red.), 50 Jahre alter Brief löst Reaktionen aus, in: „Oberhessische Presse“ vom 22.2.2014 (betr. Niederklein)

Florian Lerchbacher (Red.), 34 „Stolpersteine“ erinnern an Schicksale, in: „Oberhessische Presse“ vom 29.9.2015

Erich Schmidt (Red.), Stolpersteine sollen erinnern und mahnen, in: myheimat.de/stadtallendorf/ vom 19.5.2016

Matthias Mayer Red.), Ein Gedenkstein gegen das Vergessen, in: „Oberhessische Presse“ vom 1.9.2016  (betr. Niederklein)

Herbert Köller (Red.), Der Künstler Gunter Demnig verlegt weitere Stolpersteine in Stadtoldendorf, online abrufbar unter: myheimat.de/stadtallendorf/kultur/ vom 16.10.2019

Magistrat der Stadt Stadtallendorf (Hrg.), Stolpersteine erinnern – Für eine Kultur der Erinnerung sorgen, in: stadtallendorf.de vom 24.10.2019

N.N. (Red.) „Man stolpert mit dem Herzen über diese Steine“, in: „Oberhessische Presse““ vom 16.11.2023