Wiesenfeld (Unterfranken/Bayern)

 Datei:Karlstadt in MSP.svg Wiesenfeld mit seinen derzeit ca. 1.100 Einwohnern ist flächenmäßig größter Stadtteil von Karlstadt/Main im Landkreis Main-Spessart – knapp 40 Kilometer nördlich von Würzburg gelegen (Karlstadt auf topografische Karte, aus: wikiwand.com/de/Leinacher_Bach  und Kartenskizze 'Landkreis Main-Spessart', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Jüdische Dorfbewohner in Wiesenfeld sind erstmals 1630 (in einem Protokollbuch des Dorfgerichts) genannt. In der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts bildete sich in Wiesenfeld eine jüdische Gemeinde heraus; ihre Angehörigen standen unter dem Schutz der Freiherrn von Hutten zu Steinbach bzw. der Voite von Rieneck, dann auch dem Hochstifr Würzburg und dem Würzburger Juliusspital.

Um 1800 sollen die etwa 25 jüdischen Familien zur Miete in Gebäuden des adligen Schutzherrn in drangvoller Enge gelebt haben; der Erwerb von Immobilien war ihnen verboten. Bei der Erstellung der Matrikel (1817) waren für Wiesenfeld 25 Haushaltungen aufgelistet; ihren Lebenserwerb bestritten damals die meisten Juden vom Vieh-, Ellenwaren- u. Kramhandel (Hausiererei).

Ein erster Synagogenraum soll bereits vor 1700 genutzt worden sein. Ende des 18.Jahrhunderts wurde in der Karlstadter Straße ein neues Synagogengebäude errichtet, das um 1860 wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste. Wenige Jahre später weihte die jüdische Gemeinde einen Neubau ein; an diesem Tage soll es zu Gewalttätigkeiten gegenüber Juden gekommen sein.

Wiesenfelder Synagoge (hist. Aufn.)

Neben der Synagoge befanden sich das Schulhaus mit Lehrerwohnung (seit 1841) und ein rituelles Bad; ihren Elementarunterricht erhielten die jüdischen Kinder in der christlichen Volksschule.

Religiös-rituelle Aufgaben der Gemeinde besorgte ein von dieser angestellter Religionslehrer.

                    http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20194/Wiesenfeld%20Israelit%2011031895.jpg

Stellenanzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 21.Juli 1884 und vom 11.März 1895

Ende der 1920er Jahre wurde das Synagogengebäude umfassend renoviert und anschließend wieder eingeweiht. Die „Bayrische Israelitische Gemeindezeitung” berichtete darüber in ihrer Ausgabe vom 15.10.1929:

Wiesenfeld, 5. Oktober Dieser Tage fand die Einweihung der in ihrem Innern völlig erneuerten Synagoge statt. In seinem neuen Gewand macht das Gotteshaus, an und für sich ein schöner stattlicher Bau, einen überaus schönen, harmonischen und würdigen Eindruck. ... Eine besondere Zierde des Gotteshauses sind der herrliche Vorhang vor der heiligen Lade und die Decken auf dem Vorlese- und Vorbeterpult, sämtlich von Witwe Therese Bamberger, der Mutter des Vorstandes der Kultusgemeinde gestiftet.
Die Einweihungsfeier, der auch der Pfarrer, die Lehrer und der Bürgermeister des Ortes sowie Bezirksbaumeister Hußlein und andere auswärtige Gäste beiwohnten, begann mit dem Einholen der Thorarollen, die unter den üblichen Umzügen und Gesängen in die heilige Lade zurückgebracht wurden. Dann hielt der Vorstand der Kultusgemeinde Wiesenfeld, David Bamberger, die Begrüßungsansprache, in der er der Freude über das gelungene Werk der Wiederherstellung Ausdruck gab, dem Bauleiter und den Bauhandwerkern für die gute Ausführung der Arbeiten, dem Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden für seinen namhaften Zuschuß zu den Baukosten und dem Ehepaar Hugo Stern für die bereitwillige Überlassung zweier Räume zur Abhaltung des Gottesdienstes während der Bauzeit dankte und die Synagoge dem Schutze Gottes anvertraute. Hierauf hielt Lehrer Behrendt aus Veitshöchheim in Vertretung des verhinderten Bezirksrabbiners Dr. Hanover die Festrede, in der er in gedankenreichen Ausführungen die Bedeutung des Gotteshauses schilderte, auch den Opfersinn und die Opferfreudigkeit der kleinen Gemeinde und die Verdienste ihres rührigen Vorstandes um das Zustandekommen des Werkes hervorhob, worauf er dann die Wiedereinweihung des Gotteshauses vornahm. Mit einem Schlußgesang der Lehrers Behrendt schloß die eindrucksvolle Feier, die noch lange in den Herzen der Mitglieder der Kultusgemeinde nachhallen wird.

 

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem Verbandsfriedhof in Laudenbach begraben; auf dem 1665 angelegten Areal begruben 14 Kultusgemeinden des Umlandes ihre Toten.

Die jüdische Gemeinde Wiesenfeld unterstand dem Bezirksrabbinat Würzburg.

Juden in Wiesenfeld:

         --- um 1655 .....................   4 jüdische Familien,

    --- 1699 ........................  14     “       “    ,

    --- 1740 ........................  16     “       “    ,

    --- um 1800 .....................  90 Juden (in 20 Haushaltungen),

    --- 1813 ........................ 107   “   (ca. 14% d. Bevölk.),

    --- 1823 ........................ 108   “   (in 23 Familien),

    --- 1837 ........................ 160   “   (ca. 16% d. Bevölk.),

    --- 1848 ........................ 125   "  ,

    --- 1867 ........................ 119   “  ,

    --- 1880 ........................  94   “   (ca. 8% d. Bevölk.),

    --- 1900 ........................  66   “  ,

    --- 1910 ........................  63   “   (ca. 6% d. Bevölk.),

    --- 1925 ........................  63   “  ,

    --- 1933 ........................  55   “  ,

    --- 1938 ........................  48   “  ,

    --- 1939 ........................  29   "  ,

    --- 1942 (Jan.) ............. ca.  25   “  ,

             (April) ................  keine.

Angaben aus: Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, S. 27

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Einwohnern zeitweilig angespannt, wie Ereignisse aus dem Jahr 1866 dokumentieren; über die antijüdischen Ausschreitungen berichtete die Zeitschrift „Der Israelit” in ihrer Ausgabe vom 6.Juni 1866:

Wiesenfeld. Dieser Tage hatten auch wir eine Art Judenexceß durchzumachen. Lärmend und tobend durchzog ein aufgeregter Volkshaufen die Straßen und wurden dabei sieben Israeliten die Fenster eingeworfen. Was die Ursache dieses Aufruhrs war, stellte sich Tags darauf heraus, wo die Excedenten von den Juden verlangten, sie sollten den Antheil an den Gemeinderechten schriftlich abtreten. Es war nämlich dieser Punkt schon seit Jahren ein Zankapfel zwischen den jüdischen und christlichen Einwohnern Wiesenfelds. Als jedoch das Gericht zu Gunsten der Juden entschied, mußten sich die Unzufriedenen in das Unvermeidliche ergeben. Bei dieser aufgeregten Zeit nun glaubten die guten Wiesenfelder das Recht des Stärkeren handhaben zu dürfen und zwangen also die Juden förmlich, die betreffende Verzichtleistung auszustellen. Wahrscheinlich haben die guten Leute übersehen, daß das Gesetz einen solchen Akt nicht anerkennt und daß die Betheiligten einer strengen Strafe zu gewärtigen haben."         

Die Wiesenfelder Juden lebten im 19.Jahrhundert vom Vieh- und Hausierhandel; um 1900 gab es allein elf jüdische Viehhändler am Ort. Fast alle Juden Wiesenfelds besaßen zudem einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, der von nichtjüdischen Knechten bewirtschaftet wurde. Bis zur Anbindung an das Eisenbahnnetz frequentierten zahlreiche jüdische Händler den Ort.

                       http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20194/Wiesenfeld%20Israelit%2019021925.jpg Ein Lehrstellengesuch aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19.Febr. 1925

Die Beziehungen zur christlichen Bevölkerungsmehrheit sollen bis zu Beginn der 1930er Jahre im allgemeinen gut, wenn auch zurückhaltend gewesen sein; zum damaligen Zeitpunkt lebten noch knapp 60 Juden im Ort.

Am frühen Morgen des 10.November 1938 drang eine Gruppe SA-Angehöriger aus Karlstadt (oder aus Lohr ?) in jüdische Häuser ein und zerstörte das Inventar. Aus einem Textilgeschäft holte sie Warenbestände heraus und verbrannte diese außerhalb des Dorfes. Auch die gesamte Inneneinrichtung der Synagoge wurde zerstört bzw. geplündert; das Gebäude blieb äußerlich im wesentlichen erhalten. Alle Männer wurden 'in Schutzhaft' genommen, ins Gefängnis nach Karlstadt gebracht, einige ins KZ Dachau überstellt, wo sie mehrere Wochen in Haft blieben.

Im Laufe des Jahres 1942 wurden die verbliebenen jüdischen Bewohner Wiesenfelds deportiert; im April mussten sich 19 Personen einem Transport nach Izbica anschließen, sechs wurden Monate später wurden weitere nach Theresienstadt verschleppt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945“ sind insgesamt 46 aus Wiesenfeld stammende bzw. länger hier ansässig gewesene jüdische Personen Opfer der NS-Herrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wiesenfeld_synagoge.htm).

Im Frühjahr 1949 fand in Würzburg ein Prozess gegen 15 der am Pogrom in Wiesenfeld im November 1938 Beteiligte statt; zehn wurden zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt, fünf freigesprochen.

                                            

Nur zwei Wiesenfelder Juden kehrten nach Kriegsende in ihr Heimatdorf zurück. 

In den Jahrzehnten nach Kriegsende wurden wiederholt Versuche unternommen, das Synagogengebäude - nun als Lager landwirtschaftlicher Erzeugnisse bzw. als Stallung benutzt - abzureißen; doch kam es nie dazu. Die Stadt Karlstadt - als Besitzerin des Synagogengebäudes - ließ es schließlich im Rahmen des bayrischen Dorferneuerungsprogramms umfassend sanieren; 1997 wurde das Haus der Öffentlichkeit zur kulturellen Nutzung übergeben.

              

      Saniertes ehem. Synagogengebäude von Wiesenfeld (links: Aufn. J. Hahn, 2006 - rechts: karlstadt.de, 2009)

 

2010 wurde die „Stolperstein-Aktion“ der Stadt Karlstadt mit der Verlegung von 22 sog. „Stolpersteinen“ in Wiesenfeld zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. An mehreren Stellen (Am Kirchberg, Eckhartshofer Str., Lohrer Str., Schätzleinsgasse und Karlstadter Str.) erinnern die in den Gehweg eingelassenen kleinen messingfarbenen Steinquader an ehemalige jüdische Bewohner, die Opfer der „Endlösung“ geworden sind.

Die an das Synagogengebäude angrenzende Gasse wurde nach Joseph Schloßmann benannt, der 1860 in Wiesenfeld geboren wurde und in Lohr aufwuchs. Der später in Berlin lebende Geheime Kommerzienrat Schloßmann wurde 1930 von der Stadt Lohr zum Ehrenbürger ernannt. 1942 erfolgte von Berlin aus seine Deportation nach Theresienstadt.  vgl. dazu: Lohr (Unterfranken/Bayern)

Karlstadt - Wiesenfeld beteiligt sich - wie zahlreiche andere Kommunen der Region - am unterfränkischen Projekt „DenkOrt Deportationen 1941-1944“ mit einer Koffer-Skulptur (Aufn. Martina Dittmeier, 2021, aus: denkort-deportationen.de).

 

 

 

Weitere Informationen:

Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 429/430

Karl-Ludwig Löffler, Die Juden in Lohr und seiner näheren Umgebung, in: Festschrift zum Stadtrechtsjubiläum 1983, Lohr am Main 1333 - 1983. 650 Jahre Stadtrecht, S. 128 - 133

Adolf Link, Wiesenfeld im Waldsassengau, o.O. 1989, S. 352 ff.

Förderkreis Synagoge Urspringen (Hrg.), Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Gebiet des Landkreises Main-Spessart 1933 – 1945, Urspringen 1991

Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 137 f.

Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, Hrg. Förderkreis Synagoge Urspringen e.V., Haigerloch 2000, S. 27/28

Sabine Büttner, Von Wiesenfeld nach New York. Die Geschichte der Karola Siegel, in: Gerhard Kralik (Hrg.), Jahrbuch Karlstadt 2003/2004. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Karlstadt 2003, S. 241 - 243

Herbert Liedel/Helmut Dollhopf, Jerusalem lag in Franken. Synagogen und jüdische Friedhöfe, Echter-Verlag GmbH, Würzburg 2006, S. 162 – 165

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 173/174

Hermann Schaub, Die Wiesenfelder und der Bau ihrer Synagoge, in: Gerhard Kralik (Hrg.), Jahrbuch Karlstadt 2010/2011. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Karlstadt 2010, S. 327 - 349

Michaela Moldenhauer (Red.), Wiesenfeld – Abschluss der Stolperstein-Aktion, in: „Main-Post“ vom 20.1.2010

Auflistung der in Karlstadt, Laudenbach und Wiesenfeld verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Karlstadt

Wiesenfeld, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortsgeschichte)

Hermann Schaub, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wiesenfeld, in: Gerhard Kralik (Hrg.), Jahrbuch Karlstadt 2011/2012. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Karlstadt 2011, S. 271 - 315

Björn Kohlhepp, Jiddische Wörter im Wiesenfelder Dialekt, in: Gerhard Kralik (Hrg.), Jahrbuch Karlstadt 2012/2013. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, Karlstadt 2012, S. 306 - 322

Hans Schlumberger/Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Wiesenfeld, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 359 - 380 

N.N. (Red.), 22 Stolpersteine in Wiesenfeld vorgesehen, in: „Main-Post“ vom 23.1.2018

Alfred Dill (Red.), Die Judenwege auf der Marktheidenfelder Platte, in: „Main-Post“ vom 12.12.2021

Björn Kohlhepp (Red.), Laudenbach/Wiesenfeld. Übergriffe gegen Juden in Laudenbach und Wiesenfeld machten Schlagzeilen, in: „Main-Post“ vom 21.5.2022  (betr. Ereignisse in den 1860er Jahren)