Vollmerz (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Schlüchtern (Hessen)Main-Kinzig-Kreis Karte Vollmerz ist mit derzeit ca. 700 Einwohnern heute ein Ortsteil von Schlüchtern im Nordosten des hessischen Main-Kinzig-Kreises - ca. 30 Kilometer südlich von Fulda gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis', aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).

 

Über das Alter und die Historie der jüdischen Gemeinde in Vollmerz gibt es kaum urkundliche Belege; ihre Entstehung dürfte in die Zeit des ausgehenden 17./beginnenden 18.Jahrhunderts fallen. Um 1690 lebten in Vollmerz drei jüdische Familien. Als gesichert gilt, dass die kleine Gemeinschaft über eine 1811 erbaute Synagoge in der Hinkelhoferstraße und einen kleinflächigen Friedhof verfügte. Die Kinder besuchten die jüdische Elementarschule in Sterbfritz.

   Synagogengebäude in Vollmerz (hist. Aufn. Stadtarchiv Schlüchtern)

Die jüdische Gemeinde, die um die Mitte des 19.Jahrhunderts immerhin ca. 100 Angehörige besaß und damals etwa ein Viertel der Dorfbevölkerung ausmachte, unterstand dem Provinzialrabbinat Hanau.

Juden in Vollmerz:

    --- um 1690 .........................   3 jüdische Familien,

    --- um 1750 .........................   7    “        “    ,

    --- um 1770 .........................  12    “        “    ,

--- 1835 ............................ 105 Juden,

    --- 1861 ............................ 103   “  (ca. 23% d. Bevölk.),

    --- 1871 ............................  78   "  (ca. 10% d. Bevölk.),

    --- 1885 ............................  52   “  (ca. 6% d. Bevölk.),

    --- 1905 ............................  36   “  ,

    --- 1924 ............................  23   "  ,

    --- 1933 ............................  22   "  (in 5 Familien).

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 331

 

Auf Grund von Ab- und Auswanderung im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts ging die Zahl der Gemeindemitglieder stark zurück. Mitte der 1930er Jahre löste sich die jüdische Gemeinde Vollmerz auf.

In den Novembertagen von 1938 wurde der vermutlich schon jahrelang nicht mehr genutzte Betraum demoliert und seine Fensterscheiben zerschlagen; zu diesem Zeitpunkt war das Haus bereits verkauft; sein neuer Eigentümer nutzte es in der Folgezeit als Werkstatt bzw. Stallung. In den 1970er Jahren soll dann das Gebäude nach jahrelangem Leerstand abgerissen worden sein.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung derJuden ..." wurden elf gebürtige Vollmerzer Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/vollmerz_synagoge.htm).

 

Die jüdische Begräbnisstätte – am westlichen Ortsrand in Richtung Herolz gelegen – besitzt auf einer Fläche von ca. 660 m² noch eine Reihe, auch älterer Grabsteine; die letzte Beerdigung soll hier 1940 gewesen sein.

   http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20Hessen01/Vollmerz%20Friedhof%20052.jpg

Blick auf den jüdischen Friedhof Vollmerz (beide Aufn. H. Hausmann, 2005, aus: alemannia-judaica.de)

Israel Nussbaum, Sohn eines strenggläubigen jüdischen Viehhändlers, wurde 1869 in Vollmerz geboren. Nach seiner Ausbildung zum Lehrer wandte er sich dem liberalen Judentum zu. Von 1897 bis Anfang der 1930er Jahre war er Lehrer und Kantor in Viersen. 1942 wurde Israel Nussbaum nach Theresienstadt deportiert, wo er noch im gleichen Jahre starb. In seinem Buch "'Gut Schabbes!' Jüdisches Leben auf dem Lande. Aufzeichnungen eines Lehrers (1869-1942)" setzte er sich mit der Orthodoxie und den Gebräuchen jüdischer Landgemeinden auseinander; darin wird auch das jüdische Gemeindeleben in Vollmerz beschrieben.

                                Gedenkmedaille des Kreises Viersen für Israel Nussbaum (2004)

http://todayinsci.com/L/Levitt_Theodore/LevittTheodoreThm.jpg Theodore Levitt wurde 1925 in Vollmerz als Sohn jüdischer Eltern - des Schusters Boris Levitt und dessen Ehefrau Rachel - geboren. Die Familie emigrierte Mitte der 1930er Jahre in die USA und ließ sich im Staate Ohio nieder. Levitt wurde im Jahre 1959 an der Harvard Business School habilitiert. Später wurde er mit Marketing Myopia in der Harvard Business Review berühmt; er prägte 1983 den wirtschaftswissenschaftlichen Begriff der Globalisierung. Th. Levitt starb im Jahre 2006 in Belmont/Massachusetts.

 

[vgl. Schlüchtern (Hessen)]          

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 331

Ludwig Steinfeld, Die Juden von Vollmerz, in: „Bergwinkel-Bote“, Heimatkalender 1983, S. 35 - 39

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995, S. 223

Israel Nußbaum, Gut Schabbes!' Jüdisches Leben auf dem Lande. Aufzeichnungen eines Lehrers (1869-1942), Berlin 2002

Vollmerz, in: alemannia-judaica.de (mit einigen personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Neubearbeitung 2007, S. 346/347

Ernst Müller-Marschhausen, Theodore Levitt (1925 – 2006). Der Vordenker und Erklärer der modernen Weltwirtschaft stammte aus Schlüchtern-Vollmerz, in: "Bergwinkel-Bote",  Heimatkalender 2013