Volkmarsen (Hessen)
Volkmarsen ist heute eine Kleinstadt mit derzeit ca. 6.800 Einwohnern im hessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg - ca. 35 Kilometer nordwestlich von Kassel gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Waldeck-Frankenberg', TUBS 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Stadt Volkmarsen mit Burgruine, um 1800 (aus: wikipedia.org, CC BY 3.0)
Ein erster schriftlicher Hinweis auf möglicherweise zunächst nur vorübergehende Ansässigkeit von Juden in Volkmarsen stammt aus der Zeit um 1600. In den folgenden Jahrzehnten schienen sich weitere jüdische Familien in dem nordwestlich von Kassel gelegenen Ort niedergelassen zu haben; um 1680 wohnten zehn Juden in Volkmarsen. Die Entstehung einer Gemeinde erfolgte im Laufe des 18.Jahrhunderts.
Die Volkmarsener Synagoge, ein typisch hessischer Fachwerkbau, stammte aus den 1830er Jahren; im Keller des Synagogengebäudes in der Baustraße war eine Mikwe untergebracht.
Beschneidungsbank - Synagoge Volkmarsen (Aufn. 1929)
Dazu erschien in der Zeitschrift "Der Morgen" der folgende Artikel: "Beschneidungsbank aus der Synagoge Volkmarsen. Die Bestimmung ergibt die Inschrift. Über dem linken Platz - der rechte dient dem Gevatter zum Sitzen - stehen die Worte: 'Dies ist der Thron des Propheten Elijahu, dessen zum Guten gedacht sei!' Wie bei dem Erinnerungsmahl an die Befreiung aus dem Diensthause Ägyptens ein Platz am Tische freigehalten wird für den Propheten Elijahu, so wird auch hier für jenen schicksalsschwangeren Moment, in dem über einem neuen Gliede der alten Gemeinschaft das 'Gesegnet, der da kommt' gesprochen wird, in ewiger Spannung auf den erbetenen Anbruch der Erlösung ein Platz freigehalten für den ersehnten Vorläufer des Messias. Rechts und darunter haben die Eltern, die die Bank stifteten, Namen und Jahr angegeben; das Jahr chronogrammatisch verhüllt in dem frommen Spruch: 'Die Gelübde des Herrn will ich erfüllen'. Die Auflösung ergibt 1791 oder 1821. ...".
Eine jüdische Elementarschule in Volkmarsen bestand von Ende der 1820er Jahre bis in die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg; bis 1925 wurde diese dann als Privatschule weitergeführt.
Anm.: Fast fünf Jahrzehnte war Josef Wertheim als Lehrer in Volkmarsen tätig. Anlässlich seines Todes erschien ein Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 9. Februar 1917, in dem es u.a. hieß: „ … Drei Generationen von Schülern hat er herangebildet und unserer Gemeinde in Treue mit klugem Rat und allzeit bereiter Tat zur Verfügung gestanden. Zu den Füßen von Rabbi Mordechai Wetzlar seligen Andenkens in Gudensberg - seinem Geburtsort - hat er gelernt. Seine Kinder hat er im Verein mit einer liebevollen, verständnisreichen Gattin zu wackeren Juden erzogen. Was er in unserer Gemeinde geleistet, den Kleinen und den Großen, fünf Jahrzehnte lang, das wird ihm nie vergessen werden. Einer seltenen Wertschätzung und Verehrung erfreute sich der Heimgegangene in der gesamten Bürgerschaft, die ihn anlässlich seines goldenen Jubiläums im Jahre 1908 in hohem Maße ehrte. Das bewies auch das große Trauergefolge. Auch die Stadt beklagt einen der besten ihrer Männer. … Sein Gottvertrauen hielt ihn hoch und geistesfrisch bis in die letzten Lebenstage. ... Januach beschalom - er ruhe in Frieden."
Der vermutlich schon Anfang des 17.Jahrhunderts an der Landstraße nach Diemelstadt/Rhoden angelegte alte jüdische Friedhof wurde Mitte des 19.Jahrhunderts geschlossen; 1845 wurde ein neues Begräbnisgelände am Erpeweg, in Richtung Breuna, angelegt.
Die Gemeinde gehörte zum Rabbinatsbezirk Niederhessen mit Sitz in Kassel.
Juden in Volkmarsen:
--- 1680 .......................... 10 jüdische Familien,
--- 1742 .......................... 10 “ “ ,
--- 1806 .......................... 16 “ “ ,
--- 1818 .......................... 120 Juden (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1827/28 ....................... 129 “ ,
--- 1855 .......................... 169 “ ,
--- 1865 .......................... 157 “ ,
--- 1871 .......................... 148 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1885 .......................... 118 “ ,
--- 1895 .......................... 89 “ ,
--- 1905 .......................... 83 “ ,
--- 1927 .......................... 49 “ ,
--- um 1930 ....................... 8 - 10 jüdische Familien,
--- 1942 (Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 330
und Ernst Klein, Jüdisches Leben in unserer Region (unveröffentlichtes Manuskript, 2005)
Zahlreiche Juden Volkmarsens verdienten ihren Lebensunterhalt im Handwerk; daneben gab es - wie sonst überall - auch jüdische Vieh-, Pferde- und Getreidehändler. Nach 1870 wanderten vermehrt jüdische Familien aus Volkmarsen ab; ein weiterer Abwanderungsschub war in der Weimarer Zeit zu verzeichnen. Anfang der 1930er Jahre lebten kaum noch zehn jüdische Familien in der Kleinstadt.
Schuhgeschäft Rosenstock und Modegeschäft Hamberg am Marktplatz (beide Aufn. um 1930, Sammlung Klein)
Diskriminierung, wirtschaftliche Ausgrenzung und die Gewaltakte während der Novembertage 1938 veranlassten die meisten Volkmarsener Juden zu emigrieren, vor allem in die USA und nach Palästina.
Ende 1938 wurde der jüdische Friedhof geschändet: alle Grabsteine wurden zerschlagen und teilweise zum Wegebau verwendet. Die letzten noch in der Kleinstadt verbliebenen Familien wurden 1939 zwangsweise im „Judenhaus“, dem ehemaligen jüdischen Schulhaus in der Geilingstraße, untergebracht. Von hier aus wurden die letzten im Jahre 1942 - über Kassel - „in den Osten“ deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." fielen mindestens 23 gebürtige Volkmarsener Bürger israelitischen Glaubens der Shoa zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/volkmarsen_synagoge.htm).
Seit Herbst 1934 gab es im heutigen Volkmarser Stadtteil Külte eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte (Hachschara) vor allem für jüdische junge Erwachsene, die sich für die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten und hier eine landwirtschaftliche Ausbildung erhielten. Ein Gelände am Külter Bahnhof hatte der jüdische Holzhändler zur Verfügung gestellt. Nach etwa zwei Jahren wurde diese Ausbildungsstätte im Sommer 1936 aufgelöst, nachdem nun Einwanderungszertifikate vorlagen, die den Mitgliedern des Külter Kibbuz zur Verfügung gestellt worden waren; alle Jugendlichen verließen Deutschland und emigirierten per Schiff nach Haifa.
Hachschara-Angehörige auf ihrem Auswanderungsschiff (hist. Aufn. 1936)
Anm.: In Hessen bestanden drei weitere derartige Ausbildungsstätten: in Grüsen (bei Gemünden a.d. Wohra), in Gehringshof (bei Fulda) und in Lohnberghütte (bei Weilburg).
Der alte jüdische Friedhof – bis 1845 in Nutzung gewesen – wurde während der NS-Zeit völlig abgeräumt. Auch der neue israelitische Friedhof blieb von Zerstörung nicht verschont; alle Grabsteine (es waren fast 120 Steine) wurden zerschlagen und zum Wegebau benutzt.
Wieder aufgefundener Grabstein des alten Friedhofs (Aufn. J. Hahn, 2008)
Grabsteinrelikte vom neuen Friedhof (Aufn. J. Hahn, 2008)
Auf dem Gelände des neuen jüdischen Friedhofs erinnert seit 1948 ein aus Bruchstücken von Grabsteinen gefügtes Mahnmal an die einstige Begräbnisstätte des Ortes.
Das während des Novemberpogroms 1938 äußerlich unbeschädigt gebliebene Synagogengebäude wurde wenige Jahre nach Kriegsende von den Nachbesitzern zu einem Wohnhaus umgebaut; dabei wurde die Kuppel entfernt. Das ehemalige Synagogengebäude ist bis heute - wenn auch inzwischen mehrfach umgebaut - als Wohnhaus erhalten.
Der 1995 gegründete Verein „Rückblende - gegen das Vergessen e.V.“ hat sich die Erforschung und Dokumentation der Geschichte der jüdischen Familien in Volkmarsen und Umgebung zum Ziel gesetzt. Im Frühjahr 2005 wurde auf Vereinsinitiative eine 18 Meter lange Gedenkmauer am jüdischen Friedhof für die 22 deportierten und ermordeten Juden Volkmarsens in die Obhut der Stadt und ihrer Bürger übergeben. Für jeden der Ermordeten wurde eine Namenstafel an der Mauer befestigt. Zusätzlich informieren zwei Tafeln über die Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde und ihre Auslöschung in der NS-Zeit.
GEMIEDEN - GEDEMÜTIGT - VERGAGT - DEPORTIERT - ERMORDET
Zur Erinnerung an die jüdischen Bürger der Stadt Volkmarsen
Ihr Leid begann in unserer Mitte
25.05.2005
Die Mitglieder des Vereins Rückblende gegen das Vergessen e.V., Volkmarsen
Die jahrhundertlang in Volkmarsen bestehende jüdische Gemeinde wurde in der Zeit von 1933 bis 1942 durch erzwungene Emigration oder Ermordung ihrer Mitglieder vollständig ausgelöscht.
Gedenkmauer mit den 22 Gedenktäfelchen (Aufn. Ernst Klein, Geschichtswerkstatt Rückblende)
Die davor liegende Freifläche trägt den Namen „Platz der gegenseitigen Achtung“.
Seit 2014 trägt der Geh-/Radweg auf dem alten Bahndamm die Bezeichnung "Lucas-Alsberg-Allee".
Anm.: Dem jüdischen Kaufmann Lucas Samuel Alsberg (1782-1845) hatten es 1814 die Bewohner der Stadt zu verdanken, dass Volkmarsen nicht von durchziehenden Soldaten geplündert u. verwüstet wurde; er hatte nämlich einen Teil seines Vermögens zur Verfügung gestellt und damit die von der Soldateska geforderten "Verpflegungsgelder" erbracht.
2013 wurden in einem aus dem 13.Jahrhundert stammenden Gewölbekeller eines älteren Fachwerkhauses in der Innenstadt (am Steinweg) die Reste einer Mikwe entdeckt; vermutlich stammt das Ritualbad aus dem 16.Jahrhundert und dürfte damit das zweitälteste auf dem Gebiet Hessens sein (noch älter ist die aus dem Mittelalter stammende Mikwe in Friedberg).
Gewölbekeller und Reste des Ritualbades (Aufn. Simone Flörke, 2021 und aus: rueckblende-volkmarsen.de)
2019 konnte im "Mikwe-Haus" das Bildungszentrum (Gustav-Hüneberg-Haus*) seiner Bestimmung übergeben werden; es dokumentiert ehemaliges jüdisches Leben der Region und die Verfolgung der Juden in der NS-Zeit.
* Gustav Hüneberg (gest. 1931) war 17 Jahre Stadtverordneter in Volkmarsen; er stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die aktiv am kommunalen Leben Volkmarsens teilgenommen hatte.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 329 – 331
Michael Winkelmann, Die Hachscharah in Külte, in: Renate Knigge-Tesche/Axel Ulrich (Hrg.), Verfolgung und Widerstand in Hessen 1933 – 1945, Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 102 - 112
Volkmarsen mit den Stadtteilen Ehringen und Külte, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Elmar Schulten, Die Erinnerung wachhalten, in: "Gegen Vergessen - Für Demokratie", Heft 46/Okt. 2005, S. 36/37
Ernst Klein, Jüdisches Leben in unserer Region (Manuskripte von 2005)
Ernst Klein, Verschwundene Nachbarn - Verdrängte Geschichte. Begleitbuch zur Dauerausstellung "Deutsch-jüdisches Leben in unserer Region im Laufe der Jahrhunderte" (in der Geschichtswerkstatt Rückblende)
Ralf Pasch (Red.), Bad im Keller. Im hessischen Volkmarsen wurde eine 500 Jahre alte Mikwe entdeckt, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 1.7.2014
Ernst Klein (Bearb.), Die Mikwe oder Mikwah – Lebendiges Wasser zur rituellen Reinigung, online abrufbar unter: rueckblende-volkmarsen.de/gustav-huenenberg-haus/mikwe-wiederentdecktes-juedisches-ritualbad/
Elmar Altwasser/Mathias Kornitzky (Bearb.), Bauhistorische Untersuchung in Volkmarsen, Steinweg 24 im Hinterhaus mit Mikwe, online abrufbar unter: rueckblende-volkmarsen.de/gustav-huenenberg-haus/mikwe-wiederentdecktes-juedisches-ritualbad/
Ernst Klein, Der Verein Rückblende Gegen das Vergessen e.V. in Volkmarsen, in: M. Hölscher (Hrg.), Hessische GeschichteN 1933 – 1945, Heft 4/2014 (als PDF-Datei vorhanden)
Elmar Schulten (Red.), Unfassbare Lebensgeschichten, in: „Waldeckische Landeszeitung“ vom 29.11.2016
Ernst Klein, „aber es ist besser als Butterbrot in D.“ - Lebenswege jüdischer Kinder, Frauen und Männer aus Deutschland, hrg. von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V., Volkmarsen 2016 (enthält Biografien von ehem. jüdischen Bewohnern aus Vöhl, Volkmarsen und Kassel)
Elmar Altwasser/Mathias Kornitzky (Bearb.), Die Mikwe oder Mikwah - lebendiges Wasser zur rituellen Reinigung, hrg. vom Arbeitskreis Rückblende - Gegen das Vergessen e. V., online abrufbar unter: rueckblende-volkmarsen.de/ein-einzigartiger-fund-wiederentdecktes-ritualbad/
Linett Hanert (Red.), Verein „Rückblende gegen das Vergessen“: Stolpersteine sind die zweitbeste Lösung, in: "HNA - Hessische Niedersächsische Allgemeine" vom 23.2.2018
Elmar Schulten (Red.), Volkmarser Museum soll im Herbst ins Mikwe-Haus einziehen, in: "Waldeckische Landeszeitung" vom 25.5.2018
Elmar Schulten (Red.), Volkmarser Mikwe-Haus nach dem jüdischen Stadtverordneten Gustav Hüneberg benannt, in: „Waldeckische Landeszeitung“ vom 4.2.2019
Stadt Volkmarsen (Red.), Gustav-Hüneberg-Haus mit Schachtmikwe, online abrufbar unter: volkmarsen.de/tourismus/geschichtswerkstatt-des-arbeitskreises-rueckblende-gegen-das-vergessen-ev/
Armin Haß (Red.), In Volkmarsen Wissen über das jüdische Leben in der Region vertiefen, in: „Waldeckische Landeszeitung“ vom 15.6.2019
Armin Haß (Red.), Enzigartiges Denkmal in Volkmarsen spiegelt jüdisches Leben wider, in: „Waldeckische Landeszeitung“ vom 23.6.2019
Ernst Klein, Bernstein und Hüneberg. Fünf Jahrhunderte Deutsch-Jüdische Familiengeschichte, Volkmarsen 2021
Simone Flörke (Red.), Warburg/Volkmarsen. Eine besondere Perspektive auf 500 Jahrejüdische Geschichte, in:, NW – Neue Westfälische“ vom 27.10.2021
Arbeitskreis Jüdisches Leben in Waldeck-Frankenberg (Hrg.), Erinnerung an jüdisches Leben in Waldeck-Frankenberg, online abrufbar unter: synagoge-voehl.de/images/pdf/brosch_lk/Judische_Orte_im_Landkreis_Doppelseiten.pdf (Volkmarsen S. 58 f.)
Volker Schmidt – Pressesprecher (Red.), Gegen das Vergessen Gustav-Hüneberg-Haus in Volkmarsen als „Museum des Monats“ ausgezeichnet, in: wissenschaft.hessen.de vom 2.11.2022