Lünen (Nordrhein-Westfalen)
Lünen ist mit derzeit ca. 88.000 Einwohnern die größte Stadt des Kreises Unna (im Reg.bezirk Arnsberg) – ca. 15 Kilometer nördlich von Dortmund gelegen (Karte des Ruhrgebiets um 1940, aus: gen.wiki.genealogy.net/Ruhrgebiet und Kartenskizze 'Landkreis Unna', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die ersten Juden haben sich in Lünen vermutlich um die Mitte des 17.Jahrhunderts niedergelassen; um 1660 lebten zwei jüdische Familien in der Ortschaft. (Anm. Eine Ersterwähnung eines Juden in Lünen datiert aber bereits im Jahre 1491 bzw. 1544)
Im Laufe des 18.Jahrhunderts änderte sich an der geringen Zahl hier ansässiger Schutzjuden kaum etwas, da weiterer Zuzug nicht gestattet war. Erst als sich zu Beginn des 19.Jahrhunderts die Gleichberechtigung anbahnte, nahm die Zahl der in Lünen lebenden Juden deutlich zu. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie damals meist als Händler und Schlachter.
In einem amtlichen Bericht des Lüner Bürgermeisters (1818) sind u.a. die damaligen Vorurteile gegen Juden dokumentiert:
„ ... Im Bezirk Lünen wohnen auf dem Lande keine Juden. Nur in der Stadt Lünen befinden sich acht jüdische Familien, die gegenwärtig aus 49 Seelen bestehen. ... Ein Hauptgegenstand ihres Verkehrs ist der Hausier- und der Viehhandel. Sie besitzen eine Synagoge und eine Schule. ... Überhaupt ist es bei dem bekannten Wuchergeiste dieses Volkes dem Wohlstand einer Commüne nicht zuträglich, wenn sich die Zahl derselben zu sehr anhäuft. Durch die unermüdliche Tätigkeit und die bis ins kleinste gehende Gewinnsucht desselben, durch Hausier- und Tauschhandel in allen Artikeln, durch Geldvorschüsse auf Pfänder, durch die Schlauheit, womit dieses Volk sich im Verborgenen alle Vorteile zuzuwenden weiß, - mit einem Worte durch seinen bekannten Schacher - bringt es den Wohlstand vieler Familien in seine Hände. Eine Beschränkung der Anzahl der handeltreibenden Juden ... und gänzliche Einstellung des Hausierens dürfte nach meinem ... Dafür halten einem solchen Unwesen einigermaßen ein Ziel setzen. ...”
Die 1811 erbaute Synagoge der Lüner Gemeinde war in einem zweigeschossigen Fachwerkhaus in der Kirchstraße (heute Stadttorstr.), nahe der Evangelischen Kirche, untergebracht; sie unterschied sich äußerlich nicht von den Nachbargebäuden. Eine vom Landesrabbiner erlassene Synagogenordnung war seit 1833 in Kraft. Einen Raum des Synagogengebäudes nutzte man als Schulraum; 1908 wurde die jüdische Schule als öffentliche Volksschule anerkannt; sie bestand bis 1933.
Anm.: 1930 war der Bau eines neuen Synagogengebäudes an der Wilhelmstraße geplant; doch wurde das Vorhaben nicht mehr realisiert.
Der jüdische Friedhofs wurde vermutlich Ende des 17.Jahrhunderts in der heutigen Münsterstraße angelegt - weit vor der damaligen Stadtbebauung auf dem sog. "Judenberg". Um 1910 ins Auge gefasste Planungen, ein neues Beerdigungsareal anzulegen, zerschlugen sich.
Juden in Lünen:
--- 1660 .......................... 2 jüdische Familien,
--- 1711 .......................... 3 “ “ ,
--- 1764 .......................... eine “ “ (n),
--- 1806 .......................... 3 “ “ ,
--- 1812 .......................... 30 Juden (in 6 Familien),
--- 1818 .......................... 49 “ ,
--- 1834 .......................... 53 " ,
--- 1843 .......................... 57 " ,
--- 1850 .......................... 83 “ ,
--- 1858 .......................... 102 " ,
--- 1875 .......................... 74 “ ,
--- 1899 .......................... 92 “ ,
--- 1914 .......................... 112 “ ,
--- 1927 .......................... 115 “ ,
--- 1931 .......................... 216 “ , (?)
--- 1935 .......................... 139 “ (in ca. 50 Familien),
--- 1940 .......................... ? “ .
Angaben aus: Wingolf Lehnemann, Geschichte der Juden in Lünen, in: Zeitschrift “Der Märker”, Jg. 27, 6/1978, S. 154
und Fredy Niklowitz/Wilfried Heß (Bearb.), Lünen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, S. 553
An der Lippebrücke und Lange Straße in Lünen - hist. Postkarten (aus: de.nailizakon.com/)
Neben zwei Metzgern verdingten sich die Juden Lünens zu Beginn des 19.Jahrhunderts ausschließlich als Händler, und zwar als Hausier- und Viehhändler. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts arbeiteten die meisten jüdischen Bewohner dann als Kaufleute; ihre Läden lagen meist an der Hauptgeschäftsstraße, in der Langen Straße. Neben Ladenbesitzern gab es unter der jüdischen Bevölkerung aber auch Arbeiter (Bergleute).
Ende März 1933 wurden in Lünen erste Boykott-Maßnahmen durchgeführt.
Aus der „Lüner Zeitung” vom 30.März 1933:
Abwehrmaßnahmen gegen die Greuellügen ... wurden am gestrigen Tage in unserer Stadt durchgeführt. Auf Veranlassung der NSDAP nahmen in den Nachmittagsstunden Mitglieder der Partei vor den jüdischen Geschäften Aufstellung, um durch Plakate mit Aufschriften die Kundschaft aus den Läden fern zu halten. In fast allen Fällen gelang es, die Geschäftsinhaber zur Schließung ihrer Läden zu zwingen. ... Die ganze Aktion ist in voller Ruhe abgelaufen. ...
In Schutzhaft genommen. Der praktische Arzt Dr. Rosenberg wurde gestern nachmittag vorläufig in Schutzhaft genommen.
Tags darauf hatten die jüdischen Geschäfte wieder geöffnet; allerdings standen weiterhin SA-Leute mit antijüdischen Plakaten vor den Geschäften. Bereits in den ersten Jahren der NS-Zeit hatten jüdische Familien die Stadt verlassen; erhebliche Umsatzeinbußen jüdischer Geschäftsleute waren bereits um 1935 zu verzeichnen. Ab 1937 begannen in Lünen die „Arisierungen“ jüdischer Geschäfte; das letzte Geschäft in jüdischem Besitz, die „Roßschlächterei Lina Feldheim“, wurde im Januar 1939 aufgegeben.
In Zivil gekleidete SA- bzw. SS-Angehörige waren für die Ausschreitungen im November 1938 in Lünen verantwortlich. Erstes Ziel ihrer Gewalttätigkeiten war die Synagoge: Sie zerstörten die Inneneinrichtung und versuchten Feuer zu legen; das Eingreifen des dortigen Hausmeisters verhinderte Schlimmeres. Das Mobiliar des Synagogenraumes schleppte man dann auf den Alten Markt, um es dort - zusammen mit anderem - zu verbrennen; das Feuer lockte viele Schaulustige an. Inzwischen hatte man andere Wohnungen durchsucht und demoliert, Schaufenster jüdischer Geschäfte zerschlagen und die Auslagen auf die Straße geworfen. Die jüdischen Bewohner wurden misshandelt und zum Marktplatz geschleppt, wo sie gezwungen wurden, sich auf Stühle zu stellen und SA-Hetzlieder zu singen. Während der Gewalttaten kamen drei Juden Lünens ums Leben: zwei waren in ihren Wohnungen in der Jägerstraße erschossen worden, der dritte wurde brutal zusammengeschlagen und in die Lippe geworfen, wo er ertrank. Die drei Ermordeten wurden eingeäschert und ihre Urnen auf dem jüdischen Teil des Dortmunder Hauptfriedhofs bestattet.
Anm.: Gegen die Gewalttäter leitete die Staatsanwaltschaft Dortmund unmittelbar nach den Morden ein Ermittlungsverfahren ein, in das sich auch ‚höchste’ Dienststellen einschalteten. Allerdings wurde von einer Bestrafung abgesehen. Einer der beteiligten SS-Männer beging wenige Tage nach der Pogromnacht Selbstmord; er befürchtete, wegen einer größeren Geldsumme, die er sich aus jüdischem Besitz angeeignet hatte, zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Nach Kriegsende wurden die Hauptbeteiligten an den Morden in Lünen zu hohen Haftstrafen, die anderen Angeklagten wegen Landfriedensbruchs zu geringen Freiheitsstrafen verurteilt.
Der jüdische Friedhof Lünens wurde 1939 eingeebnet, nachdem ein Jahr zuvor die Grabsteine zerschlagen und abtransportiert worden waren. Die sterblichen Überreste wurden in einem Sammelgrab auf dem kommunalen Friedhof in Brambauer beigesetzt; eine Gedenktafel erinnert heute daran. Die Auswanderung Lüner Juden erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1938/1939; Ziele waren westeuropäische Länder, die USA, Argentinien und Palästina. Nach Kriegsbeginn wurden die noch in Lünen lebenden Juden in zwei „Judenhäusern“ zusammengelegt; im Laufe des Jahres 1942 wurden sie deportiert. Mindestens 37 Lüner Juden sind während der NS-Zeit gewaltsam ums Leben gekommen.
Ein Gedenkstein am Evang. Gemeindezentrum auf dem Sankt-Georg-Kirchplatz (Aufn. I., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) steht seit 1978 am ehemaligen Standort der Lüner Synagoge, die im Krieg durch Bomben zerstört wurde; er trägt die Inschrift:
Hier stand von 1811 bis 1938 die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Lünen.
Sie wurde unter der Herrschaft der Gewalt und des Unrechts am 9.November 1938 zerstört.
9.November 1978
An die Exzesse während der Novembertage 1938 erinnert am Lippe-Ufer in Lünen seit 1993 ein Mahnmal, das vom Maler/Bildhauer Gerd Lebjedzinski entworfen wurde.
Mahnmal am Lippe-Ufer (Aufn. D. 2017, aus: wikipedia-org, CC BY-SA 4.0)
Vom ehemaligen jüdischen Friedhof an der Münsterstraße/Ecke Goethestraße – er hatte von ca. 1690 nahezu 250 Jahre als „Guter Ort“ für die Gemeinde gedient – sind keine Grabstätten mehr vorhanden, weil er 1938/1939 vollkommen zerstört wurde; Grabsteine waren abtransportiert, zerschlagen und als Schotter für den Straßenbau verwendet worden.
ehem. Friedhofsareal (Aufn. D. Bergschneider, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
1997 hatte der Lüner Bildhauer Reinhold Schröder die Gestaltung des früheren „Judenberges”, des zerstörten Friedhofs der jüdischen Gemeinde Lünens (Ecke Münsterstraße/Goethestraße), durchgeführt. Der Künstler hat die Zerstörung durch bewusstes Aufbrechen der Plattenwege, die in die Mitte des Friedhofs führen, aufgegriffen und den Zugang mit einem Spruch aus den Klageliedern versehen. Der Text auf der Stele lautet: „Ihr alle, die ihr vorübergeht, kommt und seht, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, den man mir angetan. (Klagelieder 1,12)“
Mahnmal (Aufn. D. Bergschneider, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Seit 2009 beteiligt sich auch Lünen am sog. „Stolperstein“-Projekt; inzwischen sind es nahezu 60 Steine, die in die Gehwege Lünener Straßen eingelassen sind (Stand 2024); sie erinnern nicht nur an jüdische Opfer, sondern auch an ehem. Widerständler aus der lokalen KPD. Zeitnah sollen noch weitere Steine verlegt werden.
verlegt in der Cappenberger Straße und Jägerstraße (Aufn. V., 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
in der Gahmener Str. (Aufn. H., 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit 1996 verleiht die Stadt Lünen alljährlich den "Heinrich-Bußmann-Preis" an verdiente Persönlichkeiten und an Initiativen, die sich für das Nichtvergessen u. Erinnern engagieren. Der 1896 in Lünen geborene Bußmann war Bergmann und engagierte sich politisch schon frühzeitig in der SPD. Als NS-Gegner wurde er von den Nazis in verschiedene Konzentrationslager verschleppt; im KZ Dachau verstarb er 1942 an den ihm dort zugefügten Misshandlungen. Heute erinnert auch die "Heinrich-Bußmann-Hauptschule" an den überzeugten Sozialdemokraten.
Weitere Informationen:
Dietrich Hermann Bremer, Chronik der Stadt Lünen, Lünen 1920
Wingolf Lehnemann, Geschichte der Juden in Lünen, in: “Der Märker”, Jg. 27, Heft 6/1978, S. 153 - 158
Diethard Aschoff/u.a., Geschichte der Juden in Lünen, in: "Schriftenreihe des Stadtarchivs Lünen", Heft 8, Hrg. Stadtverwaltung Lünen - Stadtarchiv, Lünen 1988
Diethard Aschoff, Die ‘Kristallnacht’ in Lünen im Spiegel der Strafprozesse, in: "Der Märker", Jg. 37, No.6/1988, S. 210 ff.
Wilfried Heß/Fredy Niklowitz (Bearb.), Geschichte der Juden in Lünen, Lünen 1988
Wolfgang Balzer, Der ehemalige jüdische Friedhof in Lünen, in: "Denkmalpflege in Westfalen-Lippe", No.4/1998, S. 77 ff.
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 124/125
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 355/356
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen - Regierungsbezirk Arnsberg, J.P.Bachem Verlag, Köln 2005, S. 636 - 644
Fredy Niklowitz, Jüdisches Familienbuch, Stadtarchiv Lünen 2011
Auflistung der Stolpersteine in Lünen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Lünen
Michael Kupczyk (Regisseur.), Die Kinder der Turnstunde – Die Geschichte der Juden in Lünen, Dokumentarfilm, Lünen 2016
Verwischte Spuren – Jüdisches Leben in Lünen, online abrufbar unter: verwischte-spuren.de/juedisches-leben-in-luenen/
Udo Kath (Red.), Lore Terhoch überlebte das KZ Bergen-Belsen – Eindrucksvolle Stolpersteinverlegungen …, in: lokalcompass.de, Juli 2016
Fredy Niklowitz/Wilfried Heß (Bearb.), Lünen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 547 - 559
Udo Kath (Red.), Stolpersteine für Rosalie und Bernhard Samson, in: lokalcompass.de vom 5.11.2017
N.N. (Red.), Neue Stolpersteine für sechs Lüner NS-Opfer, in: "Ruhr-Nachrichten" vom 13.12.2018
Udo Kath (Red.), Einen Tag später werden 6 Steine in Lünen für NS-Opfer verlegt, in: lokalkompass.de vom 3.2.2019
Matthias Stachelhaus (Red.), Gedenken an NS-Opfer: 17 neue Stolpersteine für Lünen, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 24.4.2020
Beate Rottgardt (Red.), Arbeitskreis Stolpersteine Lünen: Preis würdigt wichtige Arbeit, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 14.8.2021
Günther Goldstein (Red.), Von Nazis in die Lippe getrieben: Neue Stolpersteine erinnern an Schicksale, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 13.9.2021
Neue Stolpersteine in Lünen – Video, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 14.9.2021
Sabine Geschwinder (Red.), Stolpersteine sind wichtiger denn je, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 15.9.2021
Beate Rottgardt (Red.), Neue Stolpersteine erinnern an grausames Schicksal zweier Lüner Familien, in: “WZ – Waltroper Zeitung” vom 21.10.2021
Udo Kath (Red.), Von Lünen nach Argentinien. Flucht vor den Nazis: Die Geschichte der jüdischen Familie Gumbert, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 15.4.2022
Udo Kath (Red.), Dreijährige Flucht nach Palästina: Jüdische Familie Levy riskierte ihr Leben, in: “Hellweger Anzeiger” vom 17.4.2022
Mahad Theurer (Red.), Neue jüdische Gedenkstätte in Lüner Innenstadt: “Teil der Gesellschaft”, in: “Ruhr-Nachrichten” vom 7.6.2022
Sylvia vom Hofe (Red.), Erinnerung: Stolpersteine in Lünen waren noch nie so wichtig wie heute, in: “WZ- Waltroper Zeitung” vom 17.6.2022
Beate Rottgardt (Red.), Stolpersteine für Familie Stiefel in Lünen geplant. Von den Nazis gedemütigt, im Ghetto gestorben, in: „Ruhr Nachrichten“ vom 16.8.2023
Udo Kath (Red.), Stolpersteine erinnern ab 1.Oktober – NS-Opfer Eheleute Stiefel, Anna Schutz und Bronislaus Mielcarek, in: lokalkompass.de/luenen/ vom 19.9.2024