Gnesen (Posen)

http://www.preussenweb.de/provinz/posenkarte.jpg Gnesen (poln. Gniezno) - nordöstlich von Posen (Poznan) gelegen, älteste Stadt Polens und dessen erste Hauptstadt - war seit um 1000 Sitz des Erzbistums; bis 1320 Krönungsstätte der polnischen Könige verlor die Stadt gegen Ende des Mittelalters aber ihre Bedeutung. Beim Übergang an Preußen 1793 (2.Teilung Polens) war Gnesen ein völlig unscheinbares Landstädtchen. Gniezno ist heute eine Stadt mit derzeit ca. 69.000 Einwohnern in der Woiwodschaft Poznan (Ausschnitte aus hist. Landkarten, aus: preussenweb.de bzw. wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Gniezno rot markiert, D. Bonas 2007, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).

 

In den Jahrzehnten um die Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinde ihren personellen Höchststand und machte damit zeitweise mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus.

Auf Grund mehrerer großer Stadtbrände, die alte Bestände des städtischen Archivs völlig vernichteten, lassen sich keine urkundlichen Belege für die früheste jüdische Ansiedlung nachweisen. Doch kann man davon ausgehen, dass Gnesen zu den Orten in Posen zählte, in denen die ältesten jüdischen Niederlassungen in der Region bestanden - vermutlich ab der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts. Der Sage nach sollen sich bereits im 10.Jahrhundert deutschstämmige Juden mit herzoglicher Erlaubnis in Gnesen angesiedelt haben; ihr erster Bethaus soll auch aus dieser Zeit stammen.

Bischof Adalbert und jüdische Kaufleute vor der kgl. Obrigkeit (Bronzerelief am Eingang des Gnesener Doms, um 1180)

Im Jahre 1567 erhielten die Juden Gnesens zwei königliche Privilegien: zum einen die Garantie des uneingeschränkten Wollhandels und zum anderen den Schutz vor ungerechter Besteuerung. Vier Jahre später unterstanden sie ausschließlich der königlichen Jurisdiktion. 1660 wurden die Privilegien vom damaligen König in schriftlicher Form bestätigt, da die alten Urkunden bei einem Großfeuer vernichtet worden waren. Die Angehörigen der ab gegen Ende des 18.Jahrhunderts deutlich größer gewordenen jüdischen Gemeinde waren vor allem Kaufleute und Handwerker. Sie gewannen im Laufe des 19.Jahrhunderts wirtschaftlich und gesellschaftlich an Bedeutung.

Der Bau zweier Synagogen lässt sich eindeutig datieren: ein 1582 erbautes Bethaus wurde 1680 von einem Neubau abgelöst. Die nach einer Feuersbrunst 1819 zerstörte Synagoge - das gesamte Judenviertel und ein Teil der übrigen Stadt wurde in Schutt und Asche gelegt - wurde Mitte der 1840er Jahre durch einen Neubau in der Hornstraße ersetzt.

      

Hornstraße mit Synagoge links im Bild (hist. Karte, um 1900)                Gnesener Synagoge (hist. Aufn., um 1920, aus: wikipedia.org, CCO)

Dieser Synagogenbau war innerhalb der jüdischen Gemeinde nicht unumstritten; denn seitens der orthodoxen Gemeindeangehörigen war er wegen seiner Abkehr von alten Traditionen abgelehnt worden; diese Ablehnung manifestierte sich auch nach der feierlichen Einweihung (1846), als Unruhen unter der jüdischen Bevölkerung ausbrachen. Seit den 1830er Jahren gab es in Gnesen - neben der Religionsschule - auch eine staatliche jüdische Elementarschule.

Von dem um 1825 angelegten jüdischen Friedhof in Gnesen sind keinerlei Überreste mehr erhalten geblieben.

Juden in Gnesen:

        --- um 1675 ..................... ca.    25 Juden,

--- 1744 ........................ ca.    60   “  ,

    --- 1793 ........................ ca.   680   “  ,

    --- 1800 ............................   761   “  ,

    --- 1815/16 .........................   592   “   (ca. 20% d. Bevölk.),

    --- 1830 ............................ 1.395   “  ,

    --- 1845 ............................ 1.974   “   (ca. 27% d. Bevölk.),

    --- 1870 ............................ 1.434   “   (ca. 15% d. Bevölk.),

    --- 1885 ............................ 1.482   “  ,

    --- 1890 ............................ 1.353   “   (ca. 7% d. Bevölk.),

    --- 1903 ............................ 1.127   “  ,

    --- 1905 ............................ 1.065   “  ,

    --- 1921 ............................   395   “   (1,5% d. Bevölk.),

    --- 1937 ............................   152   “  ,

--- 1939 (Jan.) .....................   137   “  .

Angaben aus: Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und ..., S. 408

            http://static0.akpool.de/images/cards/35/351566.jpg Friedrichstraße in Gnesen (hist. Postkarte, undatiert)

 

Mit der im Laufe des 19.Jahrhunderts erfolgten Assimilation war eine Abwendung vom religiös-orthodoxen Leben verbunden und eine Hinwendung zum „deutschen Lebensstil“. Gleichzeitig gewann auch der zionistische Gedanke an Einfluss - vor allem auf junge Menschen; seit 1906 gab es in Gnesen eine Zionisten-Organisation, die Auswanderungswillige für ihr künftiges Leben in Palästina vorbereitete. Die Abwanderung jüdischer Familien in größere deutsche Städte und Emigration nach Nordamerika dezimierte innerhalb nur weniger Jahrzehnte die Zahl der Gnesener Juden ganz erheblich; mitverantwortlich für die Abwanderung war der Übergang Gnesens zum polnischen Staatsgebiet und verbunden damit auch der polnische Antisemitismus der Zwischenkriegszeit.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges zählte die jüdische Bevölkerung Gnesens noch etwa 120 Personen. Wenige Wochen nach der deutschen Besetzung mussten die letzten jüdischen Bewohner die Stadt verlassen und wurden – gemeinsam mit jüdischen Familien aus der ländlichen Region - ins „Generalgouvernement“ (in die Nähe von Radom) verschleppt; damit war Gnesen „judenrein“. Die Synagoge wurde alsbald niedergelegt und der jüdische Friedhof eingeebnet.

 

Heute leben in Gniezno keine jüdischen Bewohner mehr.

Ein aus dem 14.Jahrhundert stammendes Relief am Portal der St. Andreas-Kapelle in der Kathedrale in Gnesen stellt Juden mit einer Sau dar. Das „Judensau-Motiv“ taucht im Mittelalter als Spottdarstellung an kirchlichen Bauwerken und in Karikaturen auf.

Anm.: Darstellungen der „Judensau“ gibt es auch in Erfurt (Dom), Xanten (Dom), Magdeburg (Dom), Köln (Chorgestühl im Dom und St. Severin), Basel (Münster), Brandenburg (älteste Darstellung: Dom), Eberswalde, Wittenberg, Remagen (Torbogen), Metz (Kathedrale) und Colmar (Münster St. Martin).

 

 

 

Im nur wenige Kilometer östlich Gnesens gelegenen Tremessen (poln. Trzemeszno Lubuskie, derzeit kaum 700 Einw.) ist eine jüdische Gemeinde im 19.Jahrhundert nachweisbar; um 1850 besaß sie ca. 160 Angehörige. Um die Jahrhundertwende ging die Zahl der Gemeindeangehörigen deutlich zurück; Ende der 1930er Jahre lebten noch ca. 30 Bewohner mosaischen Glaubens in der Kleinstadt. Während des Zweiten Weltkrieges existierte in Tremessen zeitweilig ein Zwangsarbeiterlager für Juden. Auf einem Hügel hatten die Juden Tremessens in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts ihren Friedhof angelegt, der auch Verstorbene aus naheliegenden Dörfern aufnahm. Nur wenige Grabsteine haben die Zeiten überdauert; der älteste noch vorhandene Stein stammt aus dem Jahre 1786.

Der bekannteste Sohn Tremessens ist wohl der 1906 geborene Bernhard Brilling, der zunächst eine Ausbildung als Rabbiner absolvierte. 1939 gelang es ihm nach Palästina zu emigrieren; hier veröffentlichte er Aufsätze zur deutsch-jüdischen Geschichte. Mitte der 1950er Jahre kehrte er nach Deutschland zurück und nahm seine wissenschaftliche Arbeit hier wieder auf. Brilling wurde an das „Institutum Judaicum Delitzschianum“ in Münster berufen, an er die Abteilung zur Geschichte der Juden in Deutschland leitete. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten zum deutschen Judentum, insbesondere seine Beiträge zur „Encyclopaedia“, wurde er mit dem Professorentitel und dem Leo-Baeck-Preis ausgezeichnet.

  Unweit Gnesens liegt die kleine Ortschaft Schwarzenau (poln. Czerniejewo), aus der Herbert Lewin (geb. 1899) - von 1963 bis 1969 Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland - stammte. Nach seinem Medizinstudium war er bis zu seiner Deportation als Chefarzt am jüdischen Krankenhaus in Köln tätig. Herbert Lewin überlebte die NS-Zeit und praktizierte nach 1945 wieder in Deutschland als Arzt. Vier Jahre nach seinem Tode wurde 1986 in Köln-Lindenthal eine Straße ihm zu Ehren benannt; auch in Berlin erinnert ein Platz an Herbert Lewin.

 

 

 

Im kleinen Dorfe Janowitz (poln. Janowiec Wielkopolski) – nördlich von Gnesen gelegen – gab es eine relativ große jüdische Gemeinde; gegen Mitte des 19.Jahrhunderts bestand diese aus mehr als 250 Personen und stellte damit knapp die Hälfte der Dorfbevölkerung. Erste Niederlassungen jüdischer Familien reichen bis in die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts zurück. Als erste gemeindliche Einrichtung wurde um 1790 ein Friedhof angelegt, 50 Jahre später nach dessen Belegung ein neues Grundstück gefunden. Eine um 1810 errichtete Synagoge konnte nach sechs Jahrzehnten durch eine neue ersetzt werden, nachdem eine Kollekte bei den jüdischen Gemeinden Posens erfolgreich gewesen war.

Juden in Janowitz:

    --- 1800 .........................  44 Juden,

    --- 1833 ......................... 121   “   (ca. 29% d. Bevölk.),

    --- 1849 ......................... 253   “   (ca. 42% d. Bevölk.)

    --- 1857 ......................... 263   “  ,

    --- 1871 ......................... 189   “   (ca. 30% d. Bevölk.),

    --- 1885 ......................... 218   “   (ca. 27% d. Bevölk.),

    --- 1895 ......................... 203   “  ,

    --- 1905 ......................... 139   “  ,

    --- 1910 ......................... 131   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1921 .........................  90   “   ,

    --- 1931 .........................  47   “   ,

--- 1939 ..................... ca.  60   “   .

Angaben aus: Janowiec Wielkopolski, in: sztetl.org.pl

Während der Revolutionswirren von 1848 waren Juden aus Janowitz von polnischen Aufständischen vertrieben worden; nach ihrer Rückkehr ins Dorf nahmen sie mehr eine deutsch-geprägte preußische Position ein, die ihnen gewissen Schutz garantierte. So war es nicht verwunderlich, dass nach 1850 das Deutschtum in der jüdischen Bevölkerung von Janowitz sich verfestigte. Die Zeit um die Jahrhundertwende und danach war von Abwanderung in Großstädte Deutschlands gekennzeichnet. Eine weitere Zäsur für die schon kleiner gewordene Judenschaft brachte der Anschluss an Polen mit der Abwanderung weiterer Menschen. Doch zu einer völligen Auflösung der Gemeinde kam es in Janowitz nicht; wegen ihrer geringen Mitgliederzahl wurde sie nun als Filialgemeinde der Gemeinde Gnesen unterstellt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten im Dorf ca. 65 Menschen mosaischen Glaubens.

                 vgl. Janowitz (Posen)

 

 

Im Dorfe Schwarzenau (poln. Czerniejewo, derzeit ca. 2.600 Einw.) – wenige Kilometer südwestlich von Gnesen – existierte im 18./19. Jahrhundert eine jüdische Gemeinschaft; sie zählte maximal 130 Personen (um 1800) und machte damit etwa 18% der Dorfbevölkerung aus. Danach verkleinerte die Gemeinde sich stetig und erreichte um 1880/1900 kaum noch 40 Angehörige; Anfang der 1930er Jahre waren es nur noch 20 Personen. - Seit 2009 erinnern auf dem jüdischen Friedhof, dessen Anlage möglicherweise schon im 17.Jahrhundert erfolgt ist, ein Gedenkstein und Grabsteinfragmente an die einstige jüdische Gemeinde.

http://www.shabbat-goy.com/wp-content/gallery/czerniejewo-kirkut/the-jewish-cemetery-of-czerniejewo-panorama.jpgMit Vegetation überwachsener Friedhof (Aufn. aus: shabbat-goy.com)

 

 

In der winzigen Ortschaft Kiszkowen (seit 1875 Welnau; poln. Kiszkowo) – nordwestlich von Gnesen – lebten seit dem 18.Jahrhundert einige jüdische Familien. Um 1795 zählte die jüdische Bevölkerung ca. 50 Personen, um 1840 etwa 130. Etwa vier Jahrzehnte später waren es noch ca. 40 Gemeindeangehörige. Bis zur Jahrhundertwende war deren Zahl dann auf nur sehr wenige Personen abgesunken.

 

 

 

Weitere Informationen:

A.Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Koschmin - Bromberg 1909, S. 405 - 413

A. B. Posner, The annals of the community of Gnesen (with a map and four pictures), Jerusalem 1958

Sophia Kemlein, Die Emanzipation der Juden im Großherzogtum Posen 1815 - 1848, Magisterarbeit an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 1987

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 436

Gniezno, in: sztetl.org.pl

Janowiec Wielkopolski, in: sztetl.org.pl

Kiszkowo, in: sztetl.org.pl (demografische Angaben)