Altenburg (Thüringen)
Altenburg ist eine von derzeit ca. 31.500 Personen bewohnte Stadt im Osten des Freistaates Thüringen und Kreisstadt des Landkreises Altenburger Land - ca. 40 Kilometer nordwestlich vom sächsischen Chemnitz entfernt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, Bild-PD-alt und Kartenausschnitt W., 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Ansicht von Altenburg – M. Merian um 1645/1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
In Altenburg waren im 14.Jahrhundert wenige Juden ansässig, die unter dem Schutz des wettinischen Landesherrn standen. Sie wohnten in der Jüdengasse und besaßen auch damals schon einen Betraum/Synagoge (vermutlich in der Johannisgasse).
Anm.: Neben der Straßenbezeichnung „Jüdengasse“, dem mittelalterlichen Wohnquartier der Altenburger Juden, scheint wohl die Flurbezeichnung "Jüdengrund" der einzige bis heute bestehende Verweis auf die mittelalterliche jüdische Gemeinde Altenburgs zu sein; es wird angenommen, dass der "Jüdengrund" der damalige Bestattungsort der Juden Altenburgs war.
Nach kurzzeitiger Vertreibung während der Pestjahre 1348/1349 durften sie bald wieder in die Stadt zurückkehren. Um 1420 lebten in Altenburg 14 steuerzahlende Juden, von denen sich die meisten vom Geld- und Pfandhandel ernährten; auch ein „Fleischsnider der Juden“ ist damals für Altenburg bezeugt. Nach 1430 wurden die Altenburger Juden vermutlich ausgewiesen; Mitte des 15. Jahrhunderts lebten keine Juden mehr in der Stadt. Für die Folgezeit fehlen sichere urkundliche Hinweise über jüdische Ansiedlungen. 1621 soll dann seitens des Herzogs ihre endgültige Vertreibung aus Altenburg erfolgt sein; lediglich während der abgehaltenen Märkte durften Juden die Stadt tagsüber betreten.
Bis ins Jahr 1869 war Juden jegliche Ansässigkeit in Altenburg verboten. Erst mit dem Beitritt des Herzogtums Sachsen-Altenburg zum Norddeutschen Bund wurden mit dem Gleichstellungsgesetz die bis dato geltenden Zuzugsbeschränkungen aufgehoben. Der erste jüdische Gewerbetreibende, der in Altenburg tätig wurde, war Wolff Wolff aus Pinne/Warthe; er betrieb in der Moritzstraße seinen „Berliner Bazar“.
Erst gegen Ende des 19.Jahrhunderts ließen sich in Altenburg Juden in nennenswerter Zahl nieder; es waren zumeist jüdische Einwanderer aus Galizien. Die „Ostjuden“ Altenburgs gründeten die „Israelitische Vereinigung“, die gegen Ende der 1920er Jahre in eine eigenständige Kultusgemeinde mündete und richteten in einem angemieteten Raum eines Hinterhauses in der Pauritzer Gasse ihren Betsaal ein.
* Bereits 1906 war in Meuselwitz (nahe Altenburg) ein Verein zur Abhaltung jüdischer Gottesdienste ins Leben gerufen worden. Doch die liberalen Juden Altenburgs besuchten in der Regel an hohen Feiertagen die Synagoge in Leipzig.
Einen eigenen Friedhof gab es - mit Ausnahme der Zeit des Mittelalters - in Altenburg nicht; verstorbene Gemeindeangehörige wurden in der Regel in Leipzig beerdigt, später dann auch auf einem Areal des städtischen Friedhofs.
Der Altenburger Gemeinde hatten sich auch die in Meuselwitz und Eisenberg lebenden jüdischen Familien angeschlossen.
Juden in Altenburg:
--- 1900 ............................ 20 Juden,
--- 1905 ............................ 36 “ ,
--- 1913 ............................ 112 “ ,
--- um 1925 ..................... ca. 165 “ (in ca. 20 Familien),
--- 1933 ........................ ca. 130 “ ,
--- 1939 ............................ 72 “ ,
--- 1944 ............................ ein “ (),
--- 1945 (Sommer) ................... 11 “ ,
--- 1949 ............................ 6 “ .
Angaben aus: Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Band II, S. 736 f.
und Ingolf Strassmann, Die Juden von Altenburg/Thüringen - Stadt und Land, S. 27 f.
Altenburg - Am Markt (hist. Ansichtskarte, um 1915/1920)
An jüdischen Gewerbebetrieben gab es in Altenburg zuletzt u.a. das Kaufhaus M. & S. Cohn (Inh. Albert Levy und Sally Bucky in der Sporenstraße), eine Lebensmittelhalle (Fam. Kohn, Wall- bzw. Brückenstraße), mehrere Schuhgeschäfte (Schuh-Haus Nathan Dannemann und Nordheimer´s Schuhwarenhaus in der Sporenstraße und Curt Löwenstamm am Markt) und mehrere Textilgeschäfte (M. Kaiser im Haus am Markt, Isaak Rotenberg & Co. Moritzstraße, später am Kornmarkt, von Wolf Goldberg am Kornmarkt und Wilhelm Goldberg am Topfmarkt).
Kleinanzeige des Kaufhauses Cohn (1938)
Bereits Ende der 1920er Jahre setzte in Altenburg eine antijüdische Hetzkampagne ein, die von NSDAP-Angehörigen getragen wurde; mit Beleidigungen, Bedrohungen und Schmierereien wurden die jüdischen Familien verängstigt.
Ein Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 6. Dezember 1929 berichtete darüber wie folgt:
Die Mehrheit der Altenburger Bevölkerung soll für diese NS-Aktivitäten allerdings nur wenig Verständnis aufgebracht haben. In der Stadt – sie galt damals noch als Hochburg der SPD – formierte sich am reichsweiten Boykotttag sogar offener Widerstand gegen die NS-Maßnahmen, indem sich in der Innenstadt eine Menschenmenge protestierend versammelte und sich Handgemenge mit SA-Angehörigen lieferte. Monate später setzte dann ber bereits die Emigration einzelner jüdischer Familien ein, die sich im Laufe der Folgejahre auf Grund der fortschreitenden Ausgrenzung der jüdischen Einwohner noch verstärkte.
Knapp zwei Wochen vor dem Pogrom, am 28.Oktober 1938, wurden die „ostjüdischen“ Familien Altenburgs und Meuselwitz, insgesamt ca. 40 - 50 Personen, via Leipzig in Richtung der polnischen Grenze abgeschoben.
Während der „Kristallnacht“ brachen SA-Trupps - beauftragt vom NSDAP-Kreisleiter Max Hauschild - die Wohnungen jüdischer Familien auf, misshandelten deren Bewohner und demolierten die Wohnungseinrichtungen. Einige wurden, nur in Unterwäsche bekleidet, durch die Stadt gejagt und im Börsensaal des Altenburger Rathauses zusammengetrieben. Die ca. 20 festgenommenen Männer wurden teilweise ins KZ Buchenwald abtransportiert, nachdem sie zuvor im Polizeigefängnis interniert waren. Im Zuge des Pogroms wurden auch etliche jüdische Geschäfte demoliert, so die Läden von Nathan Dannemann, Curt Löwenstamm, Isaak Rothenberg und der Familie Goldberg. Auch die Inneneinrichtung des Betsaales in der Pauritzer Straße wurde von SA-Angehörigen zertrümmert, die Ritualgegenstände herausgerissen und entweiht. Aus einem Bericht der Staatsanwaltschaft: " .... mehrere jüdische Geschäfte (wurden) demoliert. Etwa 100 erwachsene Menschen in Zivil hatten sich angesammelt und waren durch die Stadt gezogen. Unter anderem wurden die Fensterscheiben des staatenlosen Juden Isaak Rotenberg eingeschlagen, in seinem Geschäft wurde alles durcheinander geworfen. ... Auf ähnliche Weise wurden die Juden Dannemann, Löwenstamm, Goldberg usw. heimgesucht. Sprechchöre riefen „Juda verrecke” usw. Eine Synagoge gab es in A. nicht, sondern nur einen Gebetraum ... In ihm wurden hebräische Schriftzeichen übermalt. Ein Ofen und Fensterscheiben zerschlagen sowie Bücher ... beschädigt. ... Nur der Jude Löwenstamm wurde mit Farbe angemalt und der Jude Rotenberg ... trug einige Verletzungen am Kopf davon."
Über die Vorgänge in Altenburg hatte die "Altenburger Landeszeitung" vom 10.Nov. 1938 berichtet:
Mit Kriegsbeginn verschlechterte sich die Lage der noch in Altenburg lebenden Juden weiter: Sie wurden zur Zwangsarbeit (im RAD) verpflichtet. In den Jahren 1942/1944 wurden sie „in den Osten umgesiedelt”. Eine erste Deportation aus Altenburg ist für den 10.Mai 1942 dokumentiert, als 17 Juden ins Ghetto Belzyce/Lublin verschleppt wurden. Mitte Sept. 1942 wurde ein jüdisches Ehepaar ins „Altersghetto“ Theresienstadt verbracht. Auch nicht-jüdische Ehepartner wurden in Lager verschleppt, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen mehr als 110 aus Altenburg stammende bzw. über einen längeren Zeitraum ansässig gewesene jüdische Bürger der "Endlösung" zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/altenburg_synagoge.htm).
In Altenburg gab es 1944/1945 ein KZ-Außenlager: ein kleineres Männer- und ein großes Frauenkommando mit etwa 2.500 polnischen und ungarischen Jüdinnen; die weiblichen Häftlinge waren bei der Hugo-Schneider-AG (HASAG) in der Produktion von Granaten und Panzerfäusten eingesetzt. Das Außenkommando unterstand bis August 1944 dem KZ Ravensbrück, anschließend dem KZ Buchenwald. Es bestand bis zum 12.04.1945; die Evakuierung von dort erfolgte zu Fuß in Richtung Erzgebirge.
Nach Kriegsende lebten in Altenburg elf Juden; vermutlich waren es Überlebende der KZ-Außenlager bzw. Zwangsarbeiterlager in der Umgebung.
In der Pauritzer Straße erinnert eine Tafel an den ehemaligen jüdischen Betsaal mit den Sätzen:
An diesem Ort befand sich der Jüdische Betsaal.
Wir gedenken hier der jüdischen Bürger unserer Stadt.
Die Armen sind nur scheinbar vergessen.
Ihre Hoffnung ist nicht für immer dahin. Psalm 9,19.
(nun folgt die hebräische Inschrift)
Gedenktafel (Aufn. J. Hahn, 2011)
In den 1980er Jahren wurde das Gebäude mit dem ehemaligen Betsaal und der Schule mitsamt allen Nachbarhäusern an der Pauritzer Straße abgerissen.
In unmittelbarer Nähe des Altenburger Marktes gibt es die "Jüdengasse".
Auf dem städtischen Friedhof Altenburgs ruhen die sterblichen Überreste von 99 Zwangsarbeitern, darunter jüdischen Männern und Frauen, die als Häftlinge in HASAG-Betrieben u.a. in Rehmsdorf arbeiteten und hier ums Leben kamen. Mangels Brennstoff wurden die Leichen nicht im Krematorium verbrannt, sondern begraben.
Seit Herbst 2002 erinnern auf dem Friedhof zwei Stelen mit den Namen, Geburts- u. Sterbedaten an die hier ums Leben gekommenen Zwangsarbeiter; eine Stele steht für die christlichen, die andere für die jüdischen Personen.
Stelen zur Erinnerung an die hier begrabenen Zwangsarbeiter (Aufn. J. Hahn, 2011)
Das Wohnhaus der einst einflussreichsten jüdischen Familie Altenburgs ist das „Marianne-Bucky-Haus“.*
Der 76jährige Sally Bucky verstarb 1940 im niederländischen Exil; vier Jahre später wurde seine Ehefrau Marianne Bucky (damals 80-jährig und fast erblindet) – zusammen mit anderen Familienangehörigen - nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.
Nach dem früheren Inhaber des Kaufhauses M & S. Cohn, Albert Levy, ist eine Straße im Stadtteil Altenburg-Nord gewidmet.
Im Jahr 2005 wurde der von Schülern des Christlichen Spalatin-Gymnasiums produzierte Film “Spurensuche - Juden in Altenburg” prämiert; dieser zeigt u.a. Interviews von Zeitzeugen, die auf das Schicksal der einst rund 400 Juden im Altenburger Land eingehen.
In Altenburg wurden im Laufe der Jahre – beginnend 2007 - ca. 70 sog. „Stolpersteine“ verlegt (Stand 2022). Allein elf Steine fanden 2015 ihren Platz in der Rudolf-Breitscheid-Straße für Angehörige der jüdischen Großfamilie Cohn-Bucky-Levy. 2022 wurden weitere 14 messingfarbene Steinquader an drei Standorten in die Gehwegpflasterung eingefügt.
„Stolpersteine“ in der Sporenstraße und Pauritzer Straße (Aufn. 2014, aus: wikipedia.org, CCO)
verlegt in der Kronengasse (Aufn. H., 2015, aus: wikipedia.org, CCO)
Auch in Eisenberg findet man seit 2014 mehrere sog. "Stolpersteine"; so wird auf dem Großen Brühl mit vier Steinen an Angehörige der Familie May erinnert (namentliche Nennung siehe: alemannia-judaica.de/altenburg_synagoge.htm).
Vier "Stolpersteine" für Fam. May (Aufn. J. Hahn, 2020)
Ein Jahr später erfolgte in der Burgstraße die Verlegung eines weiteren messingfarbenen Quadersteins.
Aufn. C., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Jüngst wurde auf dem Gelände der Waldkliniken in Eisenberg ein kleiner Betsaal eingeweiht; für die Patienten jüdischen Glaubens wird künftig auch eine koscher-betriebene Küche vorgehalten (Stand 2022).
Weitere Informationen:
Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 10
Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band II, S. 736 f.
Ingolf Strassmann, Die Juden von Altenburg/Thüringen - Stadt und Land, München 1994 - Magisterarbeit (enthält zahlreiche Personendaten von Juden aus Altenburg und Meuselwitz)
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 222
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 33
Ingolf Strassmann, Altenburg in Thüringen. Stadt und Land unterm Hakenkreuz 1933 - 1945, S. Sell Heimat-Verlag Altenburg 2003
Spurensuche nach jüdischem Leben in Thüringen, Hrg. Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, Bad Berka 2004
Ingolf Strassmann, Die Juden in Altenburg - Stadt und Land. Woher kamen sie und wo sind sie geblieben, Verlag Beier & Beran, Langenweißbach, 2004
Altenburg (Thüringen), in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Christian Repkewitz, Stadtplan des jüdischen Altenburgs zwischen 1868 und 1945, Altenburg 2013 (Anm. interaktiver Stadtplan mit Informationen zu den jüdischen Bewohnern - online abrufbar)
Ute Flamich (Red.), In Eisenberg vier Stolpersteine für Familie May verlegt, in: „Ostthüringer Zeitung“ vom 6.8.2014
Christian Repkewitz, Verblasste Spuren ... - Lebens- und Leidenswege jüdischer Einwohner der Stadt Altenburg von 1869 bis 1946, Selbstverlag 2014
Auflistung der Stolpersteine in Altenburg, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Altenburg
Loréne Gensel (Red.), German Jewish History Award: Altenburger macht jüdische Schicksale öffentlich, in: "MDR-Thüringen" vom 20.1.2015
N.N. (Red.), Anzahl der Altenburger „Stolpersteine“ verdoppelt sich im Juni nahezu, in: abg-net.de vom 23.4.2015
Christian Repkewitz (Red.), Altenburg: Erinnerung an jüdische Familien, in: „Ostthüringer Zeitung“ vom 18.6.2015
Christian Repkewitz, Verblasste Spuren … II, Lebens- und Leidenswege jüdischer Einwohner des Altenburger Landes von 1869 bis 1945, Selbstverlag 2016
Christian Repkewitz, Cohn – Bucky – Levy: Rastlos vorwärts, Selbstverlag 2017 (deutsch-englische Ausgabe)
Christian Repkewitz, Schicksalstage – Days of Fate, Selbstverlag 2018 (deutsch-englische Ausgabe)
Red. RTL, Thüringen bekommt neue Synagoge: Neubau in Eisenberg geplant, in: rtl.de vom 14.3.2020
Red. RTL, Krankenhaus erhält Synagoge: Eröffnung im Herbst geplant, online abrufbar aus: rtil.de vom 2.6.2020
Marin Schutt (Red.), Synagoge in Eisenberg wurde feierlich geweiht – Weihe einer neuen Synagoge, in: domradio.de vom 23.5.2022
Brita Müller-Weiske (Red.), Am 6.November 2022 erneute „Stolperstein“-Verlegung in Altenburg, in: Pressemitteilung des AGB-net vom 2.11.2022
Anna Charlotte Vosgerau/Pit Strub - Friedrich-Schiller-Universität Jena (Bearb.), Altenburg, in: Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen, online abrufbar unter: juedisches-leben-thueringen.de/pogrome-1938/altenburg/