Witzenhausen (Hessen)

 Datei:Kurhessen Kr Witzenhausen.pngDatei:Witzenhausen ESW.svg Witzenhausen ist eine Kleinstadt mit derzeit knapp 16.000 Einwohnern des Werra-Meißner-Kreises im Nordosten von Hessen – ca. 20 Kilometer östlich von Kassel gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Werra-Meißner-Kreis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

Blick auf Witzenhausen - Stich von M. Merian, um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Die frühesten urkundlichen Belege über Ansässigkeit von Juden in Witzenhausen stammen aus dem beginnenden 15.Jahrhundert; damals standen zwei Juden ("Jud Heinemann und Jud Isagk") gegen Zahlung eines jährlichen Schutzgeldes unter landesherrlicher Obhut. Nach kurzzeitiger Ausweisung aller Juden aus der Landgrafschaft Hessen hielt sich um 1535 wieder mindestens eine jüdische Familie in Witzenhausen auf. Man kann davon ausgehen, dass sich im Laufe des 16.Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde bildete, die im folgenden Jahrhundert relativ groß gewesen sein muss; so verfügte die Judenschaft bereits um 1625 über eine eigene Synagoge. Seit 1625 war Witzenhausen Sitz eines Landrabbinats.

Seit Ende des 17. Jahrhunderts war Witzenhausen Sitz des hessischen Landesrabbiners und Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und damit für die gesamte hessische Landjudenschaft von hoher Bedeutung. Überregionale Ausstrahlung hatte aber besonders die Talmudschule, deren hohes Ansehen vor allem dem Rabbiner Mardochei Süßkind Rotenburg (um 1660/1680) zu verdanken war; diese Jeschiwa wurde gemeinsam von allen jüdischen Steuerzahlern des Landes getragen.

Als herausragende Persönlichkeit darf neben den in der Stadt tätigen Landrabbinern der aus Witzenhausen stammende Joseph Josel gelten, der auch unter dem Namen Joseph Ben Alexander Witzenhausen bekannt ist. Als um 1770 das Landesrabbinat nach Kassel verlegt wurde, verlor Witzenhausen an Bedeutung; am Ort verblieb nur ein Kreisrabbinat, das in den 1860er Jahren aufgelöst wurde.

Ein großer Stadtbrand vernichtete 1809 auch die hiesige Synagoge und das Schulgebäude; doch bereits 1810 wurde an der Steinstraße eine schlichte neue Synagoge errichtet.

    

Witzenhausener Synagoge (Reproduktion nach einer Zeichnung von 1903 und hist. Aufn. um 1930, Stadtarchiv)

In einer Beschreibung der Synagoge hieß es 1906: [Die Synagoge in Witzenhausen ist] „durch die klare, klassische Einfachheit des Grundrisses bemerkenswert. Die Anordnung ist eine durchaus symmetrische, Almemor und im Osten der Aron Hakodesch in einer Achse, seitlich davon das Gestühl, die Empore an drei Seiten. ... Eine schlichte Einfachheit ist innen und außen zu finden. Ein Baldachin, der über dem Allerheiligsten ... steht, ist wegen der sechs mit Palmenkapitäl geschmückten Holzstützen bemerkenswert. Die Frauenemporen sind von dem an einer Ecke anstoßenden Schulhaus zugänglich, getrennt von denen der Männer. Diese Absonderung wird noch dadurch charakterisiert, daß auf der Brüstung der Frauenempore ein hübsches Holzgitter aufgesetzt ist.” 

Eine jüdische Elementarschule bestand in Witzenhausen von Ende der 1820er Jahre bis 1933. Im Gebäude des Schulhauses befand sich seit den 1840er Jahren auch eine öffentliche Mikwe, die einige private Frauenbäder ersetzte.

          Stellenangebot der Gemeinde, aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6.Febr. 1902

Die Witzenhausener Judenschaft besaß am Orte auch ein eigenes Begräbnisgelände, das von alters her auf dem Areal der „alten Burg“ an der Einmündung der Gelster in die Werra lag; erste Bestattungen fanden hier bereits im 17.Jahrhundert statt, denn der älteste noch vorhandene Grabstein stammt vermutlich aus dem Jahr 1680.

http://www.lagis-hessen.de/img/juf/s1/Witzenhausen-003_V.jpg http://www.lagis-hessen.de/img/juf/s1/Witzenhausen-002_V.jpg alte Grabsteine (Aufn. aus: lagis.online.uni-marburg.de)

Nach Auflösung der israelitischen Gemeinde von Hebenshausen schlossen sich die wenigen dort verbliebenen Juden der Witzenhausener Kultusgemeinde an.

Juden in Witzenhausen:

         --- um 1605 .........................   6 jüdische Familien,                 

    --- um 1670 .........................  18     “        “   ,

    --- um 1745 .........................  21     “        “   ,

    --- 1776 ............................  26     "        "   ,

    --- 1812 ............................  28     “        “   ,

    --- 1823 ............................ 124 Juden,

    --- 1835 ............................ 175   “   (ca. 6% d. Bevölk.),

    --- 1861 ............................ 168   “   (in 34 Familien),

    --- 1871 ............................ 201   “   (ca. 6% d. Bevölk.),

    --- 1885 ............................ 145   “   (4,5% d. Bevölk.),

    --- 1905 ............................ 115   “   (ca. 3% d. Bevölk.),

    --- 1925 ............................ 125   “  ,

    --- 1933 (Jan.) ................. ca. 120   “  ,

    --- 1934 ............................  98   “  ,

    --- 1939 ............................  71   “  ,

    --- 1941 ........................ ca.  60   “  ,

    --- 1943 ............................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 408

und                  H. Reyer, Witzenhausen, in: K.Kollmann/Th.Wiegand, Spuren einer Minderheit. ..., S. 24 und S. 109/110                                                                                                   

 

Ansichtskarte / Postkarte Witzenhausen im Werra Meißner | akpool.de Brückenstraße in Witzenhausen - Postkarte um 1910 (Abb. aus: akpool.de)

Die Juden in Witzenhausen, die ihren Lebensunterhalt vor allem im Vieh- und Pferdehandel, aber auch als Handwerker verdienten, lebten im 19.Jahrhundert zumeist in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen.

Dass es in Witzenhausen bereits in den 1920er Jahren antisemitische Strömungen gegeben haben muss, zeigt sich, dass sich in der Kleinstadt damals ein Verein zur Abwehr des Antisemitismus bildete. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann auch in Witzenhausen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgrenzung der jüdischen Minderheit, die Anfang 1933 etwa 120 Personen umfasste.

Vorläufiger Höhepunkt der antijüdischen Ausschreitungen waren auch in Witzenhausen die bereits am Abend des 8.November 1938 begonnenen Ausschreitungen, die am folgendem Tage - in verstärktem Maße - fortgesetzt wurden.

Aus dem Polizeibericht vom Morgen des 9.November 1938: ... demonstrierte gestern Abend die hiesige Einwohnerschaft vor den jüdischen Wohnhäusern. Von den Demonstranten wurden von den jüdischen Geschäften die Fensterscheiben eingeschlagen. Der jüdische Tempel wurde völlig demoliert, unter anderem auch das Schulhaus und das Kastellanhaus.

Die Gewalttaten gingen nicht nur auf das Konto von SA- bzw. SS-Angehörigen; auch zahlreiche aufgehetzte Witzenhausener Einwohner waren an den Anschlägen auf die jüdischen Gemeindeeinrichtungen aktiv beteiligt. SA- und SS-Trupps zogen dann am 9. November 1938 durch die Stadt, drangen in jüdische Wohnungen und Geschäfte ein und zerrten die Menschen auf die Straße, wo sie misshandelt und gedemütigt wurden. Wohnungen wurden geplündert und Mobiliar demoliert.

                                             teilzerstörte Synagoge (Aufn. vom 8.11.1938, Stadtarchiv)

Die bereits im Inneren zerstörte Synagoge, das angrenzende Schulhaus und das Synagogendiener-Haus wurden am Abend des 9.November niedergebrannt. Einige vermögende jüdische Männer wurden „in Schutzhaft“ genommen und ins KZ Buchenwald verschleppt.

Etwa zeitgleich zwangen die NS-Behörden die jüdischen Geschäftsinhaber, ihre Läden aufzugeben. Mit „Inventurverkäufen“ versuchten man noch, vor Schließung der Läden die Ware zu veräußern.

                     Anzeigen „Inventurverkäufe“ (aus: M.Baumgardt)

Zu Kriegsbeginn hatten die meisten jüdischen Bewohner ihren Heimatort bereits verlassen. Die in Witzenhausen verbliebenen - Anfang 1941 waren es knapp 60 Menschen - lebten zusammengepfercht in wenigen Häusern in der Marktgasse. Im Dezember 1941 wurde ein Großteil von ihnen in Ghettos nach Osteuropa verfrachtet; die noch in Witzenhausen Verbliebenen deportierten die NS-Behörden im September 1942 nach Theresienstadt. 1943 konnten die NS-Behörden vermelden, dass Witzenhausen nun "judenfrei" sei.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind mindestens 55 aus Witzenhausen stammende bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene Juden der "Endlösung" zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/witzenhausen_synagoge.htm).

 

Auf dem ca. 4.700 m² großen jüdischen Friedhofsgelände in der Fährgasse – hier befinden sich noch heute ca. 265 Grabsteine - steht heute der Gedenkstein, der zunächst seit 1946 am einstigen Standort der Synagoge aufgestellt war; dieser erinnert namentlich an die 55 NS-Opfer der ehemaligen jüdischen Gemeinde:

Jüdisches Gebet „El Male Rachamim..“

Nach unmenschlichen Grausamkeiten mußten

55 Männer, Frauen und Kinder der Jüdischen Gemeinde Witzenhausen in Konzentrationslagern ihr Leben lassen.

An dieser Stelle fiel am 9.11.1938 die Synagoge dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer.

 

Blick auf den jüdischen Friedhof:  jüngerer u. ältererTeil (Aufn. Dehio, 2011, aus: commons-wikimedia.org, CC BY-SA 4.0  und  J. Hahn)

Auf dem Grundstück des nicht mehr bestehenden jüdischen Gemeinde- und Schulhauses erinnert ein weiterer Gedenkstein.

Gedenkstein Synagoge Witzenhausen.jpg Gedenkstein (Aufn. Stefan Flöper, 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

In Witzenhausen will eine Initiative erreichen, dass auch hier künftig sog. "Stolpersteine" verlegt werden. Die schon seit Jahren bestehenden Bestrebungen sind aber bis auf den heutigen Tag noch nicht realisiert worden (Stand 2023).

 

[vgl. Hebenshausen (Hessen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 408 - 412

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 207

Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 356 - 358

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II - Regierungsbezirke Gießen und Kassel, Hrg. Studienkreis Deutscher Widerstand, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 237 f.

Herbert Reyer, Witzenhausen, in: K.Kollmann/Th.Wiegand (Bearb.) Spuren einer Minderheit. Jüdische Friedhöfe und Synagogen im Werra-Meissner-Kreis, Kassel 1996, S. 108 - 112

Anke Schwarz, Jüdische Gemeinden zwischen bürgerlicher Emanzipation und Obrigkeitsstaat. Studien über Anspruch und Wirklichkeit jüdischen Lebens in kurhessischen Kleinstädten im 19.Jahrhundert, Hrg. Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 2002, S. 121 - 126, S. 131 - 134 und S. 185 – 191

Witzenhausen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Der jüdische Friedhof in Witzenhausen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Aufnahmen vom Gelände und einzelner Grabsteine)

Albrecht Eckhardt/Herbert Reyer, Die jüdischen Gemeinden in Witzenhausen und Hebenshausen. Unveröffentlichtes Manuskript bei der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden    

Stephan Strotkötter (Red.), Stolpersteine – auch in Witzenhausen? Initiative will Projekt in Witzenhausen verwirklichen, in: „Hessische Allgemeine" vom 4.10.2009

Matthias Röper (Red.), Acht Gulden für die Stadt, in: „HNA - Hessisch Niedersächsische Allgemeine“ vom 5.12.2011

Andrea von Treuenfeld, In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel. Geflohene Frauen erzählen ihr Leben, Gütersloh 2011, S. 156 – 164 (Anm. Lebensgeschichte von Shoshanna Friedländer, geboren als Susi Katz am 7.10.1930 in Witzenhausen)

Manfred Baumgardt, „Es stand alles in der Zeitung" - Witzenhausen in der Zeit des Terrors 1933 - 1945, books on demand, Norderstedt 2012/2013 (Neubearb. 2016)

Manfred Baumgardt, Ein jüdisches Witzenhausen oder kennst du Israel Beer Josaphat alias Paul Julius Reuter (1816-1899) ? - Ein Stadtrundgang mit Manfred Baumgardt, Verlag books on demand, Norderstedt 2018

Matthias Roeper, Dokument der Unmenschlichkeit. Zum Ende der jüdischen Gemeinde Witzenhausen, in: “Eschweger Geschichtsblätter”, Heft 31/2020, S. 97 - 108