Sterbfritz (Hessen)

https://de-academic.com/pictures/dewiki/75/Kreis_Salm%C3%BCnster.jpgDatei:Sinntal in MKK.svg Die hessische Ortschaft Sterbfritz mit derzeit ca. 2.000 Einwohnern gehört heute zur Kommune Sinntal im äußersten Nordostteil des hessischen Main-Kinzig-Kreises - ca. 30 Kilometer südlich von Fulda bzw. wenige Kilometer östlich von Schlüchtern gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: de-academic.com und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis' mit Sinntal rot markiert, Hagar 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Über das Alter der jüdischen Gemeinde in Sterbfritz liegen nur ungenaue Angaben vor; vermutlich reichen ihre Anfänge bis in die Mitte des 17.Jahrhunderts zurück, in eine Zeit, in der zahlreiche hessische Landgemeinden entstanden. Im 19.Jahrhundert bestand im Dorfe eine relativ große Ansiedlung von Juden; ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte die Gemeinde um 1875, als etwa 15% der Dorfbevölkerung mosaischen Glaubens waren. In den Jahrzehnten danach nahm die Zahl der Juden stetig ab.

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts richtete die Sterbfritzer Judenschaft ihre Synagoge in einem älteren Gebäude in der damaligen Mittelstraße ein; der Erste Weltkrieg verhinderte den Bau einer bereits geplanten neuen Synagoge.

 Ehem. Synagogengebäude (Aufn. um 1960, aus: P. Arnsberg)

* im Anbau rechts im Bild befand sich vermutlich die jüdische Schule.

Nahe der Synagoge befand sich eine Mikwe.

                      

Stellenangebot (1901)    -    Georg Fries, letzter Kantor in Sterbfritz* (Aufn. 1936, Aufn. aus: vor-dem-holocaust.de)

* Georg Fries (Frieß) starb im März 1945 in Bergen-Belsen.

Auch die jüdischen Kinder aus dem benachbarten Vollmerz wurden bis 1934 in der einklassigen israelitischen Elementarschule in Sterbfritz unterrichtet; sie war die einzige Schule dieser Art im Kreis Schlüchtern, die noch zu Beginn der NS-Zeit bestand.

Ihre Verstorbenen beerdigte die Sterbfritzer Judenschaft auf dem nach 1650 angelegten jüdischen Friedhof in Altengronau. Dieser diente zahlreichen jüdischen Gemeinden als zentraler Begräbnisplatz; so wurden hier auch Verstorbene aus Burgsinn, Dittlofsroda, Gemünden, Geroda, Heubach, Lohrhaupten, Mittelsinn, Völkersleier u.a. beerdigt.  

Juden in Sterbfritz:

          --- 1781 .......................   6 jüdische Familien (32 Pers.),

    --- 1835/37 ..................... 121 Juden,

    --- 1861 ........................ 150   “  ,

    --- 1885 ........................ 169   “    (ca. 16% d. Bevölk.),

    --- 1895 ........................ 138   “  ,

    --- 1905 ........................ 134   “    (ca. 11% d. Bevölk.) ,

    --- 1925 ........................  98   “  ,

    --- 1933 ........................  94   “  ,

    --- 1938 (Nov.) .................  44   “  ,

    --- 1939 (Mai) ..................  24   “  ,

    --- 1942 (Dez.) .................  keine.

Angaben aus: Beiträge zur Geschichte jüdischer Sterbfritzer, in: Mitteilungen des Heimat- u. Geschichtsvereins Bergwinkel e.V., Heft 14/1998, S. 18

 

Die Sterbfritzer Juden bestritten ihren Lebensunterhalt im Vieh- und Pferdehandel sowie als Kaufleute und Händler; einige wenige übten auch ein Handwerk aus, andere betrieben eine kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb.

Stellenangebote um 1900

http://www.juden-in-baden.de/images/Images%20444/Sterbfritz%20Anzeige%20Dessauer.jpg http://www.juden-in-baden.de/images/Images%20444/Sterbfritz%20Anzeige%20Josef%20Strauss.jpg um 1920

Über die Beziehungen zwischen Juden und Christen in Sterbfritz zu Beginn des 20.Jahrhunderts schrieb Max Dessauer: „ ... Christen und Juden lebten hier einmal brüderlich beieinander. Die Christen wie die Juden hatten für sich ihre Glaubensgemeinschaft. Aber außerhalb des religiösen Bereichs gab es im Alltag viele Bindungen, die konfessionelle Unterschiede aufhoben. So war eine christlich-jüdische Lebensgemeinschaft entstanden, eine Symbiose, ... Juden und Christen lebten in Eintracht und Freundschaft miteinander. ... Von ein paar wohlhabenden Leuten abgesehen, drückten Juden und Christen als Bauern, Händler und Handwerker die gleichen Sorgen. ... Die Händler hatten zwar alles anzubieten, was zum Leben auf dem Lande notwendig war, aber ihre Geschäfte warfen trotzdem keine Reichtümer ab.

Bis Ende der 1930er Jahre hatten die meisten Juden das Dorf verlassen; einige wenige waren nach Übersee ausgewandert, die meisten in deutsche Städte verzogen. Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Inneneinrichtung der hiesigen Synagoge durch ein SA-Kommando zerstört und die Kultgegenstände auf die Straße geworfen. Auch gewalttätige Übergriffe auf jüdisches Eigentum waren in Sterbfritz zu verzeichnen. Die letzten in Sterbfritz zurückgebliebenen jüdischen Bewohner wurden im Laufe des Jahres 1942 deportiert; ihre Schicksale sind teilweise unbekannt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind 56 gebürtige bzw. längere Zeit in Sterbfritz ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/sterbfritz_synagoge.htm).

 

Unmittelbar nach Kriegsende wurde das ehemalige Synagogengebäude als Wohnhaus für Flüchtlinge genutzt; der einstige Synagogenraum diente als Remise. Bis in die 1970er Jahre war an dem Gebäude eine unscheinbare Gedenktafel; das Gebäude wurde abgerissen.

Dieser Bau war ehemals die Synagoge der jüdischen Gemeinde Sterbfritz

und wurde am 9.11.1938 zerstört.

Bei der evangelischen Kirche ist eine Gedenktafel mit folgendem Text angebracht:

Der jüdischen Gemeinde Sterbfritz zum Gedenken.

Über 300 Jahre waren die Sterbfritzer Juden tief in ihrem Heimatdorf verwurzelt und liebten ihr deutsches Vaterland. Fünf jüdische Männer aus Sterbfritz starben als Soldaten im Ersten Weltkrieg. Nach 1933 machten die Nationalsozialisten aus geachteten und respektierten jüdischen Nachbarn verachtete Bürger zweiter Klasse. Am 10. November 1938 schändeten Nazis aus Sterbfritz und Umgebung das Gotteshaus der Sterbfritzer Juden, misshandelten jüdische Menschen und zerstörten ihr Eigentum. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung und Gewalt verließen viele Sterbfritzer Juden ihre Heimat. Nicht allen gelang es, ins Ausland zu fliehen und ihr Leben zu retten. 1942 wurden die letzten Sterbfritzer Juden verschleppt und in Konzentrationslagern ermordet. 1933 lebten 93 Bürger jüdischen Glaubens in Sterbfritz. 32 von ihnen - Männer, Frauen und Kinder - fielen dem nationalsozialistischen Massenmord zum Opfer. Möge das Leid der Verfolgten und ermordeten eine Mahnung für die Lebenden sein!
Gott wird den Tod verschlingen auf ewig und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufgeben die Schmach seines Volkes in allen Landen, denn Gott hat es gesagt (Jesaja 35,8). 

 

Am Altengronauer Friedhof erinnert eine Gedenktafel mit ausführlichen Informationen auch an die jüdische Gemeinde von Sterbfritz:

DEN TOTEN ZUM GEDENKEN

DEN LEBENDEN ZUR MAHNUNG

Im Gebiet der heutigen Gemeinde Sinntal gab es vier jüdische Gemeinden: in Züntersbach, Altengronau, Oberzell und Sterbfritz.

Alle Gemeinden begruben ihre Toten hier auf dem jüdischen Friedhof, der Ende des 17.Jahrhunderts angelegt worden war.

Die “Jüdische Gemeinde Züntersbach” bestand von etwa 1700 bis zum Jahre 1900.

Die “Jüdische Gemeinde in Altengronau” gründete sich um 1700. Im Jahre 1932 hatte der Ort 46 jüdische Einwohner von 1060 insgesamt. Benjamin Münz war der letzte Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Viele Jahre war er Gemeindevertreter der politischen Gemeinde und zeitweise auch stellvertretender Bürgermeister.

Die “Jüdische Gemeinde Oberzell” bestand seit dem Beginn des 18.Jahrhunderts. Im 1.Weltkrieg erhielt Israel Rosenbaum das Eiserne Kreuz 1.Klasse. In den dreißiger Jahren lebten die jüdischen Familien Goldschmidt, Rosenbaum, Aronsohn und Simon in Oberzell.

Die Anfänge der großen “Jüdischen Gemeinde Sterbfritz” reichen mindestens in das Jahr 1665 zurück. Im Jahre 1885 waren von 1077 Einwohnern 169 jüdischen Glaubens. Im Ersten Weltkrieg starben fünf jüdische Sterbfritzer für ihr Vaterland. Mit seinen Dorfgeschichten ‘aus unbeschwerter Zeit’ setzte der Sterbfritzer Max Dessauer dem harmonischen Zusammenleben von Christen und Juden ein literarisches Denkmal.

Während der nationalsozialistischen Diktatur wurden die jüdischen Gemeinden in Altengronau, Oberzell und Sterbfritz allmählich zerstört und die einst als Bürger geachteten jüdischen Familien verfolgt. Ihrer Existenzgrundlage beraubt, sahen sie sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Nicht alle konnten ihr Leben durch Flucht ins Ausland retten. Sie wurden gewaltsam verschleppt. In den Vernichtungslagern wurden 32 Sterbfritzer, 16 Altengronauer und 13 Oberzeller ermordet.

WIR TRAUERN UM DAS LEID DER VERFOLGTEN UND UM DIE ERMORDETEN

Die Gemeinde Sinntal im Jahre 2003

[vgl. Altengronau (Hessen)]

 

 

 

In Oberzell, einem anderen Ortsteil von Sinntal, gab es eine jüdische Gemeinde, deren Anfänge im ausgehenden 17.Jahrhundert liegen; bereits damals soll die Zahl ihrer Angehörigen - sie wohnten zumeist auf dem sog. „Judenhügel“ - recht groß gewesen sein. Die Synagoge der Oberzeller Juden war in einem zweigeschossigen Fachwerkbau untergebracht; zudem gab es hier eine Religionsschule und ein rituelles Bad. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts teilte man sich mit einer Nachbargemeinde einen Religionslehrer, der zweimal wöchentlich nach Oberzell kam.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20107/Oberzell%20Israelit%2016061884.jpg Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 16. Juni 1884

Begräbnisstätte der Juden Oberzells war auch der Friedhof in Altengronau.

Juden in Oberzell:

    --- 1835 ........................ 54 Juden,

    --- 1861 ........................ 43   „  ,

    --- 1905 ........................ 35   „  ,

    --- 1925 .................... ca. 20   „  ,

    --- 1938 ........................  4   „  .

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 364

Nach 1930 löste sich die kleine Oberzeller Kultusgemeinde auf; die verbliebenen Bewohner wurden der Gemeinde Heubach zugewiesen. Kurz vor Kriegsbeginn lebten nur noch vier Juden im Dorf.

Im Rahmen der Dorferneuerung wurde unlängst der Bereich des „Judenhügels“ ("Jürre Küppel“) - dem ehemaligen Wohnbereich der jüdischen Familien - saniert.

Seit 2017 erinnern sechs sog. „Stolpersteine“ in der Sinntalstraße an Angehörige der jüdischen Familie Aronsohn.

                    Datei:Stolpersteine Oberzell.JPG Aufn. Ludwig Hildebrand, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0

 

 

 

Weitere Informationen:

Max Dessauer, Aus unbeschwerter Zeit - Geschichten um die Juden in meinem Dorf, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1962

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 298/299

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 190

Beiträge zur Geschichte jüdischer Sterbfritzer, in: "Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V.", Heft 14/1998, Schlüchtern 1998

Thomas Müller, Max Dessauer (1893 - 1962) - Ein Sterbfritzer Jude, sein Leben und seine Erinnerung an die ‘unbeschwerte Zeit’, in: "Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V.", Heft 14/1998, Schlüchtern 1998, S. 4 f.

Monica Kingreen: Lazarus Hecht aus Sterbfritz – ein jüdischer Hausierer, in: "Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V.", Heft 14/1998, Schlüchtern 1998, S. 111 – 119

Monica Kingreen, Die Namen der ermordeten jüdischen Sterbfritzer, in: "Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V.", Heft 14/1998, Schlüchtern 1998, S. 120 - 126

Sterbfritz, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Oberzell, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Sterbfritz - Fotos zu dem jüdischen Alltagsleben in Hessen, online abrufbar aus: vor-dem-holocaust.de (Fotos von Personen aus Sterbfritz)

Henry D. Schuster, „Von Sterbfritz nach Las Vegas“, CoCon-Verlag Hanau, 2011

Lisa-Marie Weitzel (Red.), Oberzell ist erstes Bergwinkel-Dorf, in dem Stolpersteine verlegt wurden, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 2.7.2017