Kleinbardorf (Unterfranken/Bayern)

Die beiden Partnerregionen    Datei:Sulzfeld in NES.svgDie Ortschaft Kleinbardorf ist seit ihrer Eingemeindung (1978) ein Ortsteil von Sulzfeld im unterfränkischen Landkreis Rhön-Grabfeld (Kartenskizzen von Unterfranken, aus: bezirk-unterfranken.de  und  'Landkreis Rhön-Grabfeld', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts betrug der jüdische Anteil an der Bevölkerung des kleinen Dorfes zeitweilig etwa 30%.

Erste Ansiedlung von Juden in Kleinbardorf ist aus dem Jahre 1574 urkundlich belegt; die hier lebenden Juden erhielten damals von den Freiherren von Bibra einen Begräbnisplatz auf dem Wartberg (südöstlich des Dorfes) zugewiesen, einer der ältesten und größten im ländlichen Bereich Frankens und Thüringens. Im sog. Saalbuch aus dem Jahr 1602 findet man unter ‚Kleinbardorf‘ den folgenden Eintrag: „ ... Der Juden Begräbniß ist uff einer Ellern zu oberst der Wartburg gegen Sulzfeld zu nächst an dem Weg gelegen, richtig versteint und hat ongefährlich 1 Acker Felds inne, darauf sich nit allein die Inheimischen, sondern auch andere benachbarte Juden begraben lassen, davon jährlich dem hochwürdigen Fürsten, meinen gnädigen Herren von Würzburg sie 14 rheinische Thaler geben, es werde gleich jemand dasselbig Jahr darauf begraben oder nit.

Dieser Begrärrbrnisplatz war in den folgenden Jahrhunderten der zentrale Friedhof für fast 30 kleine jüdische Gemeinden in der Region; neben einer jährlichen Zinszahlung musste für jede Beerdigung eine gesonderte Abgabe geleistet werden. Ende des 17.Jahrhunderts wurde auf dem Gelände von einem Stifter namens Jospe (von) Neustatt ein Tahara-Haus errichtet.

Seit 1769 konnte dann die jüdische Gemeinde über das Beerdigungsgelände verfügen. Aus einer Beschreibung des Volkskundlers Ludwig Bechstein:... Merkwürdig ist der umfangreiche Judenfriedhof auf einer Anhöhe über Kleinbardorf. Seit undenklichen Zeiten bestatten die Juden der ganzen Umgegend hierher ihre Toten. Von zwanzig bis vierundzwanzig Ortschaften in der Runde werden die Verstorbenen hierher gebracht. Da das Gesetz der Juden ihnen verbietet, in schon benutzte Grabhügel wieder andere Leichname zu beerdigen, so wächst auf dieser friedlichen Höhe die Gräberzahl zu Tausenden an, und die kleinen weißen Grabsteine mit schwarzer hebräischer Schrift gewähren einen eigenthümlichen Anblick. ...

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2043/Kleinbardorf%20Friedhof%20011.jpghttp://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2043/Kleinbardorf%20Friedhof%20010.jpg

jüdischer Friedhof in Kleinbardorf (hist. Aufn., aus: Sammlung Th. Harburger)

Die Grabstein-Inschrift des Abraham ben Zwi auf dem jüdischen Friedhof in Kleinbardorf, der in Thundorf gewohnt hatte und 1874 bestattet wurde, lautete: "Nah und Fern trauerte, da der Gerechte und Wohltätige in seine Welt einging. Seine aufrichtigen Söhne, in seinen Fußstapfen wandelnd, Zahlreich sind seine Vorzüge und Wohltaten, zu knapp dieser Stein, um sie auszubreiten und um seine Löblichkeiten zu erzählen. Bescheidenheit wie Liebe zur Tora und Sein Haus war ein Treffpunkt von Tora-Gelehrten, die er mit zahlreichen Geschenken versah. Seine Söhne erzog er zum Studium der Tora und gebot ihnen Wohltätigkeit zu üben. Seine Seele erfreute sich, Hungernde zu sättigen und streitfrei an seinem Glauben festzuhalten. Freude und Gesang waren in seinem Haus an Festtagen, frühzeitig kam er immer ins Bethaus. In Armut wie in Reichtum ertrug er Leid in Liebe und wich von seinem Glauben nicht ab. Seine Tage zeugen für seine Rechenschaft. Nur Gutes wirkte er mit all seiner Macht und sein geehrter Name gleicht dem großen Namen Raw Abraham ben Zwi, Kramer von Thundorf verstorben im Greisenalter am Dienstag, dem 9. Schwat 634 der kleinen Zählung. Seine Seele sei eingebunden im Bund des Lebens.  (Übersetzung von Michael Trüger)

Im Jahre 1896 erbaute die Gemeinde ein einfaches, aus roten Backsteinen gefertigtes Synagogengebäude, das einen älteren maroden Bau in der Frühlingsstraße ersetzte; die Finanzierung war erst durch Spenden ermöglicht worden, da die am Ort lebenden Familien kaum dazu in der Lage waren. Das neue Gotteshaus wurde in den 1920er Jahren auch von den Juden aus Kleineibstadt mitgenutzt. Über die Einweihung durch den Bezirksrabbiner Dr. Bamberger vollzogene wurde in der Zeitschrift „Der Israelit” am 10.12.1896 wie folgt berichtet:

Aus dem Grabfelde. Es ist ein Ereignis freudiger Natur, von dem ich Ihnen diesmal aus unserer Gegend zu berichten habe:

Die isr. Gemeinde Kleinbardorf feierte am vorigen Freitag ihre Synagogeneinweihung. Schon Jahre lang machte sich dort das Bedürfniß fühlbar, eine neue Stätte der Andacht zu gründen. Die alte Synagoge befand sich in einem Zustande, der jeder Beschreibung spottet: Faul und morsch an allen Ecken und Enden; ..., daß die Nothwendigkeit eines Neubaues immer noch näher heranrücken müsse. Es ist daher wahrlich kein kleines Verdienst vom Vorstande, Herrn Wildberg, ein schönes Zeugniß seiner Energie, seiner Ausdauer für die gute Sache, dass ein hübsches, den lokalen Verhältnissen ganz und voll entsprechendes Gotteshaus hergestellt werden konnte, ... Die Weihefeier dieser Andachtstätte ist als eine in jeder Beziehung gelungene zu bezeichnen. Von der ganzen Umgegend war man herbeigeströmt, um Zeuge des Festes zu sein und der heilige Akt machte auf alle Anwesenden den denkbar besten Eindruck, der königliche Herr Bezirksamtmann, der das Fest mit seiner Anwesenheit beehrte, war sichtlich befriedigt. Und wie konnte es auch anders sein? War doch sowohl die Abschiedsrede in der alten als auch die Weiherede in der neuen Synagoge ein oratorisches Meisterwerk unseres allgemein beliebten Rabbiners, der Herrn Dr. Bamberger von Burgpreppach. ... Auch die christliche Bevölkerung nahm an dem Feste lebhaften Anteil. Dass der Weg zur h. Stätte mit Fichtbäumen bestellt, dass der Eingang zur Synagogen mit Guirlanden beschmückt, mit vielen Kränzen geziert war, daß die Feierwehr des Ortes den in großer Ordnung vor sich gehenden Festzug begleitete und begrenzte, daß diese Feierlichkeit sogar durch Musik, durch Böllerschüsse gehoben wurde, das alles ist den nichtisraelitischen Einwohnern zu danken. Ist ein solcher Akt der Nächstenliebe nicht tiefrührend ? Mit Recht konnte darum des anderen Tags gelegentlich eines Konzertes, das zu Ehren der Synagogenweihe stattfand, Herr Lehrer Zucker ..., hervorheben, daß unsere Gegend, dem Allmächtigen sei Dank, von der Fäulnis des Antisemitismus nicht berührt sei. Gebe Gott (hebräische Abkürzung für: "der Name, gelobt sei er!"), daß es immer so bleibe! Dieser Synagogeneinweihung aber werden alle Betheiligten erhobenen Gefühls gedenken. S. in Kl.

 

In Kleinbardorf bestand seit ca. 1810/1815 auch eine jüdische Schule, dessen Gebäude um 1915 verkauft und später abgerissen wurde. Im unteren Dorf befand sich eine Mikwe, die durch natürlichen Wasserzufluss gespeist wurde.

Die Kleinbardorfer Gemeinde war dem Bezirksrabbinat Burgpreppach zugehörig.

Juden in Kleinbardorf:

    --- 1605 .........................  5 jüdische Familien,

    --- 1752 ......................... 12     "       "    ,

    --- 1777 ......................... 14     "       "    ,

    --- 1810 ......................... 85 Juden (in 18 Familien, ca. 30% d. Dorfbev.),

    --- 1824 ......................... 73   “  ,

    --- 1839 ......................... 83   “  ,

    --- 1848 ......................... 87   “  ,

    --- 1871 ......................... 75   “   (ca. 27% d. Dorfbev.),

    --- 1880 ......................... 60   “  ,

    --- 1900 ......................... 54   “   (ca. 21% d. Dorfbev.),

    --- 1910 ......................... 35   “  ,

    --- 1925 ......................... 11   "  ,

    --- 1933 ......................... 11   “  ,

    --- 1935/38 ......................  8   “  ,

    --- 1940 (Juni) ..................  4   "  ,

    --- 1942 (April) .................  keine.

Angaben aus: Reinhold Albert, Geschichte der Juden im Grabfeld, S. 118

und                 W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, S. 733/734

 

Um noch regelmäßig Gottesdienste abhalten zu können, schlossen sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Gemeinden von Kleineibstadt und Kleinbardorf zusammen; im 14tägigen Wechsel fanden Gottesdienste jeweils in beiden Orten statt.

            Erntewagen vor der Synagoge (Aufn. um 1930, Archiv R. Albert)

Mit der NS-Machtübernahme begann auch in Kleinbardorf der „Kleinkrieg“ gegen jüdische Dorfbewohner; während ein Teil der „arischen“ Dörfler weiterhin zu seinen jüdischen Nachbarn stand - dafür wurden sie im „Stürmer“ namentlich als „Judenfreunde” denunziert -, folgte der andere Teil willig den antisemitischen Parolen. Mitte der 1930er Jahre gab es nur noch wenige Juden im Dorf; 1937 wurde ihre Gemeinde offiziell aufgelöst. Nationalsozialisten aus dem nahen Königshofen zerstörten am 10.November 1938 die Synagoge in Kleinbardorf; gegen den Willen der Einheimischen brachen die Täter gewaltsam das Gebäude auf, zerschlugen die bleiverglasten Fenster und zerstörten die Inneneinrichtung. Die letzten fünf jüdischen Bewohner Kleinbardorfs wurden im Laufe des Jahres 1942 nach Izbica bei Lublin bzw. nach Theresienstadt deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen 29 gebürtige bzw. länger am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Kleinbardorfs der "Endlösung" zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kleinbardorf_synagoge.htm).

 

Das einstige Synagogengebäude an der unteren Hauptstraße ist weitgehend erhalten; es wird heute als landwirtschaftlicher Lagerraum genutzt. Seit 2008 weist eine Gedenktafel auf dessen einstige Nutzung hin.

Grabfeld-224.jpgGrabfeld-115.jpg

Ehemaliges Synagogengebäude und Gedenktafel (Aufn. Dietrich Krieger, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Der jüdische Friedhof in Kleinbardorf - mit ca. 21.000 m² der zweitgrößte im Freistaat Bayern - besitzt noch mehr als 4.000 Grabsteine (nach einer Zählung von 1987). Auf dem weitläufigen Areal am Wartberg – im Volksmund als „Judenhügel“ bezeichnet - sollen sich bis Anfang der 1930er Jahre angeblich 20.000 (!) Grabstätten befunden haben; die ältesten Grabsteininschriften stammen vermutlich aus dem ausgehenden 17.Jahrhundert. Inmitten der Grabanlage steht das inzwischen restaurierte Taharahaus.

Grabfeld-147.jpg

Gräberfelder des jüdischen Friedhofs Kleinbardorf


Taharahaus und steinerner Waschtisch (alle Aufn. Dietrich Krieger, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Am Eingang des jüdischen Friedhofes erinnert eine Gedenktafel mit der Inschrift:

In Kleinbardorf bestand eine Jüdische Kultusgemeinde,

Synagoge Untere Hauptstraße 5.

Die Gemeinde gedenkt ihrer ehemaligen jüdischen Mitbürger.

Zur Erinnerung und Mahnung.

 

 

 

Weitere Informationen:

M.E. Fuchs, Die Juden in Kleinbardorf, Manuskript, 1927

Otto Mölter, Die Juden in Kleinbardorf, Manuskript, 1953

Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 335/336

Claus W. Bossinger, Das Leben und die Geschichte der Juden in Bad Königshofen unter Miteinbeziehung des Judenfriedhofes in Kleinbardorf, Facharbeit Geschichte am Gymnasium Bad Königshofen, 1983

Reinhold Heusinger/Gerwin Solf (Bearb.), Kleinbardorf Gemeinde Sulzfeld – Beträge zur Heimatgeschichte, Mellrichstadt 1989

Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 2. Aufl., München 1992, S. 82 - 84

Kleinbardorfer Schule und die Synagoge sind ein wichtiges Stück Kulturgeschichte, in: "Grabfeld-Umschau" vom 21.8.1995

Reinhold Albert, Geschichte der Juden im Grabfeld, in: "Schriftenreihe des Vereins für Heimatgeschichte im Grabfeld e.V.", Heft 2, Kleineibstadt 1996, S. 82/83 und S. 110

Theodor Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern, Band 2: Adelsdorf - Leutershausen, Hrg. Jüdisches Museum Franken - Fürth & Schnaiitach, Fürth 1998, S. 323 - 325

Michael Trüger, Der jüdische Friedhof Kleinbardorf, in: "Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern", 14.Jg., No. 80/1999, S. 18

M.Brocke/Chr. Müller, Haus des Lebens - Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Reclam Verlag, Leipzig 2001, S. 130/131

Ulrich Knufinke, Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland - Eine Skizze, in: Gerd Biegel/Michael Graetz (Hrg.), Judentum zwischen Tradition und Moderne, "Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg", Bd. 2, Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2002, S. 33

Ulrich Knufinke, Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland, in: "Schriftenreihe der Bet Tfila – Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa", Band 3, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2007, S. 75 – 77

Kleinbardorf, in: alemannia-judaica.de (mit Text- und Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Reinhold Albert (Bearb.), Kleinbardorf. Der zweitgrößte jüdische Friedhof in Bayern, in: "Rhön- u. Saalepost" vom 14.12.2015

Reinhold Albert, Jüdische Friedhöfe im Landkreis Rhön-Grabfeld, in: "Schriftenreihe der Kulturagentur des Landkreises", Heft 1/2015

Elisabeth Böhrer (Bearb.), Die Tasche der Martha Hofmann aus Kleinbardorf, in: „Heimatjahrbuch Rhön-Grabfeld 2018“, S. 349 - 353 (auch als PDF-Datei unter: alemannia-judaica.de/kleinbardorf_synagoge.htm)

Gerhild Elisabeth Birmann-Dähne, Jüdische Friedhöfe in der Rhön, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2018

Reinhold Albert, Das Schicksal der jüdischen Familie Wildberg aus Kleinbardorf, in: „Das Grabfeld“, No. 27/Nov. 2019

Gerhard Gronauer/Hans-Christof Haas (Bearb.), Kleinbardorf, in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 714 - 739

Hanns Friedrich (Red.), Wissenschaftler untersuchen jüdische Grabmäler in Kleinbardorf: Was die verwitterten Inschriften ihnen verraten, in: „Main-Post“ vom 15.6.2022

Miichael Czygan (Red.), Was jüdische Gräber vom Leben in fränkischen Dörfern erzählen: Unterwegs mit Experten vom Johanna-Stahl-Zentrum, in: „Main-Post“ vom 26.8.2024