Heiligenstadt (Oberfranken/Bayern)

Datei:Heiligenstadt in Oberfranken in BA.svg Das oberfränkische Heiligenstadt ist eine von derzeit ca. 3.600 Menschen bewohnte Marktgemeinde im Osten des Landkreises Bamberg (Kartenskizze 'Landkreis Bamberg', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts gehörte jeder 5. Ortsbewohner dem jüdischen Glauben an.

Im oberfränkischen Markt Heiligenstadt waren Juden seit Beginn des Dreißigjährigen Krieges ansässig; zunächst als Schutzjuden der Herren von Streitberg - nach 1691der Freiherren von Stauffenberg - bildeten sie schnell eine kleine jüdische Gemeinde, die um 1800 ihren zahlenmäßigen Zenit erreichte. 1699 waren Bauern aus der Scheßlitzer Gegend, aber auch Bewohner Heiligenstadts an einem Pogrom gegen die Juden beteiligt. Als knapp zwei Jahrzehnte später der Mord an einem „Christen-Mägdlein“ in Heiligenstadt bekannt wurde, fürchteten die hiesigen Juden erneut Übergriffe und baten ihre Herrschaft um Schutz.

1617 wurde erstmals von einer Betstube berichtet; ab ca. 1745 beherbergte ein Privathaus den gottesdienstlichen Raum, der bis zur Auflösung der Heiligenstädter Kultusgemeinde genutzt wurde.

           Gebäude, in dem sich die Betstube befand (hist. Aufn. um 1900, aus: K. Guth)

Ein um 1820 geplanter Synagogenbau war von den Behörden untersagt worden.

Zeitweilig hatte die Gemeinde für die Besorgung der religiös-rituellen Belange einen Lehrer angestellt.

   Stellenanzeige aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 17.7.1871http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2084/Heiligenstadt%20Israelit%2019071871.jpg

In einigen Privathäusern waren Keller-Mikwen untergebracht. Erhielten die jüdischen Kinder in Heiligenstadt zunächst nur Privatunterricht, so gab es ab 1827 eine „Israelitische Religions- und hebräische Sprachschule“ am Ort.

Nach 1890 wurden nur noch sehr selten Gottesdienste in der inzwischen völlig maroden Betstube abgehalten, sodass die Heiligenstädter Juden an Fest- und Feiertagen die Synagoge in Aufseß aufsuchen mussten. 

Oberhalb der Ortschaft, „Auf dem Kuhlich“ (oder "Köhlich"), legte die Judenschaft ihren Friedhof an; vermutlich hatten die Freiherren von Stauffenberg das Gelände der Gemeinde zur Verfügung gestellt. Vor 1720 diente dieses bereits den Aufsesser Juden als Begräbnisstätte, da sie selbst noch über kein eigenes Beerdigungsgelände am Ort verfügten. Über die Beerdigungsriten der Heiligenstädter Juden wird in der Heimatchronik des Lehrers Hans Spörl wie folgt berichtet: „ ... Seltsames geschah bei jüdischen Beerdigungen. Der (oder die) Tote wurde auf einem Leiterwagen, von einem Pferd gezogen, zum Friedhof auf dem Kuhlich, über dem Wischberg gefahren. Das Grab war vorher rasch ausgehoben worden. Die Toten wurden im „Sterbhemd“, das schon zu Lebzeiten genäht wurde, in den einfachen, ungehobelten Sarg gelegt, der ohne Nägel und Schrauben vom Ortsschreiner, einer Kiste gleich aus vier Brettern angefertigt worden war. Ein Säckchen mit Münzen wurde dem Toten mitgegeben. Die Frauen, außer den nächsten Blutverwandtinnen, mußten in der Behausung bleiben. Blumen durften nicht gespendet werden, auch nicht das kleinste Sträußchen. Mit der üblichen Kopfbedeckung legten die Männer den Sarg in das Grab, das Gesicht des Toten nach Osten gerichtet. Es geschah alles mit der größten Eile. Jeder Anwesende warf drei Schaufeln Erde in das Grab. Der Judenlehrer, ... , las unterdessen aus dem Gebetbuch, ... , die Gebete. Und dann geschah das Auffallende: der jüdische Lehrer ritzte mit einem Taschenmesser – zum Zeichen der Trauer – den schwarzen Anzug des leidtragenden Mannes oder (bei einer leidtragenden Frau) den Schal an, der (die) dann den Riß mit der Hand erweiterte. Die Trauergäste zogen beim Weggang dreimal Gras aus und warfen es hinter sich. Später änderte sich der Ritus insofern, als auch Christen den Leichenzug begleiten und die jüdischen Frauen bis zum Wischberg mitgehen durften. ...“

Die jüdische Gemeinde Heiligenstadt unterstand nacheinander verschiedenen Rabbinaten: zunächst dem in Bamberg, dann bis 1864 dem in Hagenbach; für die folgenden drei Jahrzehnte war das Rabbinat Baiersdorf zuständig, anschließend das Distriktsrabbinat Bamberg.

Juden in Heiligenstadt:

         --- 1605 .........................  3 jüdische Familien,

    --- um 1620 ......................  5     “       “    ,

    --- 1758 ......................... 58 Juden,

    --- 1808 ......................... 68   "   (ca. 16% d. Bevölk.),

    --- 1818 ......................... 90   “  ,

    --- 1825 ......................... 80   “   (ca. 19% d. Bevölk.),

    --- 1840 ......................... 77   “  ,

    --- 1852 ......................... 87   “   (ca. 20% d. Bevölk.),

    --- 1867 ......................... 53   "   (ca. 13% d. Bevölk.)

    --- 1875 ......................... 27   “   (ca. 6% d. Bevölk.),

    --- 1890 ......................... 12   “  ,

    --- 1900 ......................... 15   “  ,

    --- 1910 ......................... keine.

Angaben aus: Klaus Guth (Hrg.), Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800 - 1942), S. 189

Heiligenstadt und Greifenstein, um 1815 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

In den Matrikellisten für Heiligenstadt waren 16 jüdische Hauhaltsvorstände verzeichnet. Die Juden Heiligenstadts verdienten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie die einheimische dörfliche Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgten; bis ins 19.Jahrhundert waren - neben Hausierhandel - der Vieh- und Schnittwarenhandel die wichtigsten Einnahmequellen. Nach 1850/1860 verließ ein Großteil der jüdischen Bewohner das Dorf: Teilweise verzogen sie in umliegende größere Städte wie Bamberg oder Nürnberg, teilweise emigrierten sie nach Übersee.

Die immer kleiner gewordene Gemeinde löste sich schließlich 1902 auf; die verbliebenen Juden schlossen sich der Kultusgemeinde Aufseß an. Ein knappes Jahrzehnt später lebten bereits keine jüdischen Bewohner mehr in Heiligenstadt.

 

Nur noch der in einem Waldgelände oberhalb von Heiligenstadt liegende jüdische Friedhof, auf dem die letzte Beisetzung 1895 erfolgte, erinnert heute noch daran, dass iim Ort ehemals eine jüdische Gemeinde beheimatet war; ca. 90 Grabsteine sind auf dem Gelände verblieben, darunter etwa 45 alte Mazzewot. Nach der Auflösung der Heiligenstadter Gemeinde hatte die benachbarte jüdische Gemeinde Aufseß die Unterhaltung des Friedhofs übernommen.

Blick auf das jüdische Friedhofsareal (Aufn. Jan Eric Loebe, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY 3.0)

Jüdischer Friedhof Heiligenstadt - einzelne Grabstätten (Aufn. P. Aschoff, 2006)

Jüngst wurden von 'unbekannten Tätern' auf dem Friedhof fünf Grabsteine aus dem Boden gerissen und umgeworfen (2022).

 

[vgl. Aufseß (Bayern)]

 

Anmerkung: In (Bad) Heiligenstadt (Eichsfeld) existierte auch eine jüdische Gemeinde  siehe: Heiligenstadt (Thüringen).

 

 

 

Weitere Informationen:

Hans Spörl, Die Geschichte des Marktfleckens Heiligenstadt aus Archivbeständen, Urkunden und anderen Quellen, Heiligenstadt 1952

W.Tausendpfund/G.Ph. Wolf, Obrigkeit und jüdische Untertanen in der Fränkischen Schweiz, in: "Zeitschrift für bayrische Kirchengeschichte", No. 52/1983, S. 135 ff.

Peter Landendorfer, Möglichkeiten der Quellenforschung am Beispiel Heiligenstadt, in: Jüdische Landgemeinden in Franken - Beiträge zur Geschichte einer Minderheit, Schriften des Fränkische-Schweiz-Museum, Band 2, Bayreuth 1987, S. 15 - 17

Klaus Guth (Hrg.), Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800 - 1942). Ein historisch-topographisches Handbuch, Bayrische Verlagsanstalt Bamberg, Bamberg 1988, S. 186 - 194

Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 221/222

Dieter Zöberlein, Gemeindechronik Markt Heiligenstadt i. Ofr., Heiligenstadt 1995

Peter Landendorfer, Heiligenstadt, in: "Jüdisches Leben in der Fränkischen Schweiz. Schriftenreihe des Fränkische-Schweiz Vereins", Band 11, Palm & Enke, Erlangen 1997, S. 558 - 605

Peter Landendorfer, Jüdische Persönlichkeiten aus Heiligenstadt, in: "Jüdisches Leben in der Fränkischen Schweiz, Schriftenreihe des Fränkische-Schweiz Vereins", Band 11, Palm & Enke, Erlangen 1997, S. 764 - 770

Theodor Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern, Band 2: Adelsdorf - Leutershausen, Hrg. Jüdisches Museum Franken - Fürth & Schnaiitach, Fürth 1998, S. 285 - 287 

Michael Trüger, Der jüdische Friedhof in Heiligenstadt, in: Der Landesverband der Israelit. Kultusgemeinden in Bayern, 14. Jg., No. 79/1999, S. 19

Eva Groiss-Lau, Jüdische Landgemeinden in Franken zwischen Aufklärung und Akkulturation, in: Klaus Guth (Hrg.), Deutsche - Juden - Polen zwischen Aufklärung und Drittem Reich, Michael Imhof Verlag, Petersburg 2005, S. 51 - 54

Heiligenstadt (Kreis Bamberg), in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Frederik Eichstädt / BR24 (Red.), Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof herausgerissen und umgeworfen, in:br.de vom 3.9.2022