Gehaus (Thüringen)

  ST Gehaus.pngDas Dorf Gehaus ist heute ein Ortsteil von Dermbach im Süden des Wartburgkreises - unweit der Landesgrenze zu Hessen (Kartenskizzen 'Wartburgkreis'', H. 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0  und  'Kommune Dernbach', Metilsteiner 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Neben Stadtlengsfeld war Gehaus einer der Orte im Großherzogtum Sachsen-Weimar, der in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts einen relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteil besaß.

Gegen Ende des 16.Jahrhunderts ließen sich einzelne jüdische Familien im Dorfe Gehaus nieder, die unter dem „Schutz“ der Herren von Boyneburg standen. Um einen weiteren Zuzug von „Straßen- und Betteljuden“ zu verhindern, wandte sich die einheimische Dorfbevölkerung an den Landesherren, weil sie eine Verschlechterung ihrer eigenen Lebensverhältnisse befürchtete. Dem Ansinnen kamen die Boyneburgs insofern nach, dass sie nur noch den inzwischen im Dorfe lebenden Schutzjuden, nicht aber ihren Nachkommen eine Ansässigkeit zusicherten. Ihre Familien ernährten die meisten durch Hausier-, Kramwaren- und Viehhandel; seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es dann mehrere Ladengeschäfte am Ort, aber auch einen Handwerker und kleine Industriebetriebe.   

Die jüdische Gemeinde hielt ihre Gottesdienste zunächst in Privathäusern ab, ehe um die Mitte des 18.Jahrhunderts eine schlichte, nach außen nicht seiner sakralen Bestimmung erkennbares Synagogengebäude eingerichtet wurde. Auch eine jüdische Schule wurde etwa zur gleichen Zeit geschaffen; um 1830 erhielt diese einklassige Elementarschule - derzeit mit ca. 50 Schüler/innen - den Status einer öffentlichen Schule. Knapp 40 Jahre später wurde sie mit der christlichen am Ort zu einer sog. Simultanschule zusammengelegt. Hier erteilten sowohl christliche als auch jüdische Lehrer Unterricht.

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zwei fast gleichlautende Stellenangebote aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 16.Febr. 1876 und vom 5.Sept. 1877

Seit Mitte des 18.Jahrhundert existierte oberhalb des Dorfes am Alten Weilarischen Weg ein kleiner Begräbnisplatz, der der Judenschaft gegen ein jährliches Pachtgeld von den Herren von Boyneburg zur Verfügung gestellt wurde; die Fläche des Friedhofs wurde später infolge des Zuzugs weiterer jüdischer Familien mehrfach erweitert. 

Die Kultusgemeinde Gehaus gehörte zum Landrabbinat Sachsen-Weimar-Eisenach (mit Sitz in Stadtlengsfeld, seit 1912 in Eisenach).

Juden in Gehaus:

         --- um 1730 .........................   8 jüdische Familien,

    --- 1823 ............................ 298 Juden (in 64 Familien),

    --- 1848 ............................  70 jüdische Familien,

    --- 1861 ............................ 213 Juden,

    --- 1895 ............................  63   “  ,

    --- 1913 ............................  42   “  ,

    --- 1920 ............................  41   “  ,

    --- 1930 ........................ ca.  35   “   (in 13 Familien),

    --- 1942 (Sommer) ...................  keine.

Angaben aus: Paul Gerstung/Heinz Kleber, Chronik jüdischen Lebens in Gehaus

Dorfstraße/Kirche in Gehaus - Postkarte um 1910 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts besaß das Dorf Gehaus einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, der etwa ein Drittel der Dorfbevölkerung ausmachte. Innerhalb des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach war Gehaus - neben Stadtlengsfeld - ein Zentrum jüdischen Lebens. Ab etwa 1840 wanderten viele Bewohner - darunter auch zahlreiche Juden - aus wirtschaftlichen Gründen aus; neben dem Umzug in deutsche Städte waren bevorzugte Auswanderungsziele der jüdischen Familien Nordamerika, aber auch Palästina.

Bis in die 1920er Jahre bestimmten Juden den Viehhandel in der Region.

Ab den 1930er Jahren fasste auch in Gehaus immer mehr antisemitisches Gedankengut Fuß: Zerstörung von Fensterscheiben jüdischer Wohnungen, Hetzparolen an den Häuserwänden, aber auch physische Gewaltanwendung gehörten bald zum Dorfalltag; die fanatisierte Dorfjugend beteiligte sich oftmals an Ausschreitungen. Die Simultanschule war 1933 aufgelöst worden; der jüdische Lehrer verließ den Ort. Während des Novemberpogroms wurde die Synagoge von SA-Angehörigen aus Dermbach, denen sich Sympathisanten aus dem Dorfe anschlossen, aufgebrochen und die Inneneinrichtung zerschlagen. Auf eine Inbrandsetzung des Gebäudes verzichtete man wegen der Gefährdung der benachbarten Gebäude. Ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden ein jüdisches Geschäft und mehrere von Juden bewohnte Häuser. Im Mai 1942 mussten die letzten jüdischen Dorfbewohner ihr Heimatdorf für immer verlassen; sie wurden nach Theresienstadt deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 31 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg in Gehaus wohnhaft gewesene jüdische Bewohner Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gehaus_synagoge.htm).

 

Das ehemalige Synagogengebäude diente nach Kriegsende als Werkstatt; nach einem Schadensfeuer wurde die Ruine Mitte der 1970er Jahre abgerissen, das Grundstück neu überbaut.

Auf dem ca. 2.200 m² großen Areal des jüdischen Friedhofs am Weilarer Weg, auf dem noch ca. 120 Grabstätten vorhanden sind, weist heute eine Gedenkstein auf die Deportation der letzten jüdischen Ortsbewohner hin.

Ansicht des jüdischen Friedhofs in Gehaus und älterer Grabstein (Aufn. J. Hahn, 2011)

[vgl. Stadtlengsfeld (Thüringen)]

 

 

Weitere Informationen:

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 357 - 359

Paul Gerstung/Heinz Kleber, Chronik jüdischen Lebens in Gehaus, in: Hans Nothnagel (Hrg.), Juden in Südthüringen geschützt und gejagt, Band 5: Jüdische Gemeinden in der Vorderrhön, Verlag Buchhaus Suhl, Suhl 1999, S. 128 - 150

Ulrike Schramm-Häder, Jeder erfreuet sich der Gleichheit vor dem Gesetze, nur nicht der Jude. Die Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach (1823 - 1850), in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen", Kleine Reihe, Band 5, Verlag Urban & Fischer, München/Jena 2001

Gabriele Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811 - 1871. Jüdische Schul- und Kulturreform unter staatlicher Regie, in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen",  Kleine Reihe, Bd. 9, Böhlau Verlag, Köln - Weimar - Wien 2003, S. 51/52

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Band 8 Thüringen, Frankfurt/M. 2003, S. 330   

Spurensuche nach jüdischem Leben in Thüringen, Hrg. Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, Bad Berka 2004, S. 102/103

Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, hrg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Sömmerda 2007, S. 121 – 125

Gehaus mit Dermbach und Unteralba, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Jüdischer Friedhof in Gehaus, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Aufnahmen vom jüdischen Friedhof)

Helmut Hehl, Juden in Gehaus, in: Erinnerungen an Gehaus, die Rhön und die Welt, 2014 (online abrufbar unter: blog.hehl-rhoen.de)

Gerhild Elisabeth Birmann-Dähne, Gehaus (Thüringen), in: Jüdische Friedhöfe in der Rhön. Haus des ewigen Lebens, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 52 - 55