Marienwerder (Ostpreußen)

 Kreis Marienwerder – WikipediaKwidzyn location mapDie in der Weichselniederung liegende Stadt Marienwerder ist das heutige polnische Kwidzyn mit derzeit ca. 38.000 Einwohnern (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Kwidzyn rot markiert, K. 2005, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).

 

In der ersten Hälfte des 18.Jahrhundert sollen in Marienwerder und im nahen Umkreis bereits Juden gewohnt haben, allerdings nur vorübergehend. Mit Branntweinausschank sollen sie zumeist ihren Lebenserwerb bestritten haben. Um 1790 siedelte sich dauerhaft in Marienwerder als erster jüdischer Bewohner der Bankier Leib Jacob Lewin mit seiner Familie an; in den folgenden Jahrzehnten kamen weitere hinzu, die jährliche Abgaben an die königliche Kasse zu leisten hatten: Neben Schutzgeldzahlungen wurden unter anderem ein sog. Rekruten-, Hochzeits- und Kindergeld sowie ein Silberlieferungsgeld gefordert. 1815 wurde der kleinen Gemeinde erlaubt, an einer Graudenzer Straße einen eigenen Friedhof anzulegen; zuvor waren verstorbene Juden in Stuhm beerdigt worden. Ihre Gottesdienste hielten die jüdischen Familien bis Anfang der 1830er Jahre in einem Betraum ab, der sich im Hause eines wohlhabenden Juden (Victor Cohn) in der Marienburger Straße befand. Aus Spendengeldern konnte dann ein Synagogenneubau in der Mauernstraße finanziert werden; dieser wurde 1832 unter Beteiligung der Gemeindemitglieder, aber auch zahlreicher Christen, feierlich eingeweiht; die Festrede hielt der evangelische Kirchenorganist Kronberger.

                         Synagogenfront (hist. Aufn. um 1935, aus "Stadt u. Kreis Marienwerder", Bildband)

Knapp 100 Jahre später ließ die Marienwerder Gemeinde eine größere Synagoge an der Ecke Grünstraße/Heckenstraße erbauen; deren feierliche Einweihung fand am 10.August 1930 statt.

Um 1845/1850 verschaffte sich der Prediger Dr. Heimann Jolovicz (geb. 1816) in Marienwerder Gehör; als radikaler Anhänger der Reformbewegung gründete er hier eine ‚Reformvereinigung’ mit Sonntagsgottesdienst und deutscher Liturgie - doch ohne sichtbaren Erfolg.

Die meisten jüdischen Kinder besuchten öffentliche Schulen; seit 1849 bestand in Marienwerder eine jüdische Privatschule.

Zur Synagogengemeinde Marienwerder gehörten auch die jüdischen Familien des Umlandes, so die aus Garnsee, Kurzebrack, Marienau, Mareese, Münsterwalde und von Nieder- und Hochzehren.

Juden in Marienwerder:

    --- 1789 .........................  eine jüdische Familie,

    --- 1811 .........................    8      “       “   n,

    --- 1825 .........................  102 Juden,

    --- 1831 .........................  111   "   (ca. 2% d. Bevölk.),

    --- 1846 .........................  220   "  ,

    --- 1867 .........................  312   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1880 .........................  295   “  ,

    --- 1887 .........................  357   “  ,*     * gesamte Synagogengemeinde

    --- um 1890 .................. ca.  290   “  ,*   

    --- um 1900 .................. ca.  200   “  ,*

    --- um 1910 .................. ca.  120   “  ,*

    --- um 1930 .................. ca.  210   “  ,*

    --- 1933 (Juni) ..................  186   “  ,*

    --- 1938 ..................... ca.  100   “  ,

    --- 1939 (Dez.) ..................  keine.

Angaben aus: Otto Gründer (Hrg.), Marienwerder - Westpreußen. Aus dem Leben einer deutschen Stadt an der unteren Weichsel, S. 125 - 127

und                 Gerhard Salinger, Zur Erinnerung und zum Gedenken. Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens, Teilb. 3, S. 539 f.

http://www.castlesofpoland.com/prusy/postcard/marienwerder029.jpg Marienwerder am Markt (hist. Postkarte, aus: castlesofpoland.com)

 

In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts hatte die jüdische Gemeinde in Marienwerder ihren numerischen Höchststand erreicht. Bis zum Ersten Weltkrieg sank die Zahl der Gemeindemitglieder deutlich, um bis Anfang der 1930er Jahre kurzzeitig wieder anzusteigen; Grund dafür war die Zuwanderung jüdischer Familien, die die an Polen abgetretenen Gebiete verlassen hatten. Ihren Lebenserwerb verdienten die Juden Marienwerders vor allem im Handel; neben dem großen Kaufhaus M. Conitzer & Söhne gab es weitere Geschäfte in jüdischem Besitz, die den alltäglichen Bedarf der Stadtbewohner und des nahen Umlandes abdeckten.

Inserate des Konfektionshauses Herz

Über das Zusammenleben der christlichen Bevölkerung mit der jüdischen Minderheit schrieb der Ornithologe Ewald Lenski (um 1955): ... Die jüdischen Glaubensangehörigen waren in jedem Falle, genau wie unsere christlichen Mitbürger, ohne jeglichen Vorbehalt unsere Freunde und gleichgestellte Mitbürger gewesen. Als ehrsame Geschäftsleute und Gewerbetreibende übten sie ihren Beruf gleichermaßen aus wie die des christlichen Glaubens. Sie hielten sich in allen Dingen des Umgangs und gesellschaftlichen Verkehrs meist stets bescheiden zurück. Sie erfüllten ihre gesetzlichen und vaterländischen Pflichten wie jeder andere Bürger der Stadt. Ihre Kinder, unsere Schulfreunde, zeichneten sich durch bescheidenes Wesen, Anstand und Hilfsbereitschaft aus. Sie waren begabt und freundliche Gefährten unserer Schulzeit. Als meiste fromme Leute ... besuchten sie ihr Gotteshaus. Man kann auch sagen, daß unsere jüdischen Mitbürger weder stolz noch hochmütig waren und ihren Angestellten gegenüber gerecht und sozial. Hervorzuheben ist ihr vorbildliches Familienleben. ...” (aus einem Aufsatz in: „Der Westpreuße”, 16.Jg./1964, No. 26)

Mit der NS-Machtübernahme 1933 begann der schnelle Verfall der Gemeinde; einem Teil gelang die Emigration, der andere verzog in größere deutsche Städte.

In der Pogromnacht im November 1938 wurde die 1920 erbaute Synagoge durch Brandstiftung von ansässigen SA-Angehörigen teilzerstört. Der jüdische Friedhof wurde eingeebnet. Bis Mai 1939 hatten alle jüdischen Bewohner Marienwerder verlassen. Von den jüdischen Familien, die Anfang der 1930er Jahre in Marienwerder lebten, wurden Angehörige von mindestens 25 Familien Opfer des Holocaust.

        Ehem. (alte) Synagoge Marienwerders (Aufn. Kwidzynopedia, um 2010)

Das teilzerstörte (neue) Synagogengebäude wurde – unter Beibehaltung baulicher Relikte – später als Wohnhaus wiederhergestellt.

Das Gelände des ehem. jüdischen Friedhofs ist heute eine Grünanlage; ein Gedenkstein mit -tafel weist auf dessen einstige Bestimmung hin.

             Gedenkstein in Kwidzyn (Aufn. aus: sztetl.org.pl)

 

 

 

In der wenige Kilometer östlich Marienwerders gelegenen Ortschaft Riesenburg (poln. Prabuty, derzeit ca. 8.800 Einw.) waren um 1700 keine jüdischen Familien ansässig; denn ein behördliche Anweisung verbot jeglichen Handel in der Stadt. Die wenigen Familien lebten vielmehr auf adligen Gütern im Amte Riesenburg. Eine Gemeinde bildete sich aber erst ca. ein Jahrhundert später heraus (offizielle Anerkennung aber erst 1853); ihr Statut stammte aus dem Jahre 1857. Durch einen Großbrand, der 1868 beinahe die gesamte Ortschaft zerstörte, wurden viele Einwohner obdachlos; auch die Synagoge wurde vernichtet. Vor 1830 besuchten die jüdischen Kinder eine Privatschule; danach die öffentliche Schule.

                                                    Synagoge in Riesenburg (hist. Aufn.)

Ende der 1930er Jahre hatten die allermeisten Juden Riesenburg verlassen. Die Synagogenruine wurde nach 1945 abgerissen und das Gelände eingeebnet. Das Friedhofsgelände weist heute nur noch wenige Grabsteinrelikte auf. 

vgl. dazu: Riesenburg (Ostpreußen)

 

 

 

Neben zwei mit Schutzbriefen ausgestatteten Juden lebten um die Wende des 18./19.Jahrhunderts in dem damals unbedeutenden Landstädtchen Rosenberg (poln. Susz, derzeit ca. 5.500 Einw.) zudem noch weitere 13 Familien, die unvergleitet waren und eigentlich widerrechtlich sich hier aufhielten. Versuche, diese „nicht-geduldeten“ Juden über die Grenze abzuschieben, schlugen fehl. Die kinderreichen Familien beschäftigten damals einen „Schulmeister“, der im Hause des Schutzjuden Joseph Hirsch wohnte und auch als Schächter seinen Dienst versah.

Mitverantwortlich für die Zuwanderung auch jüdischer Familien war die Erhebung Rosenbergs zur Kreisstadt, mit der ein wirtschaftlichen Aufschwung verbunden war. Immerhin lebten in den 1860er Jahren mehr als 180 jüdische Bewohner in der Stadt.

Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte seit 1803 ein Beerdigungsgelände an der Straße nach Michelau; etwa zeitgleich erhielt die Gemeinde durch ein Legat von Hillel Jacob Finkenstein ein Grundstück in der Schmalen Straße, auf dem das Bethaus stand. Nach 1850 besuchten die jüdischen Kinder die allgemeine städtische Schule; nur Religionsunterricht war dem Kantor vorbehalten.

Lebten um die Jahrhundertwende noch etwa 80 Personen mosaischen Glaubens in der Stadt, so hatte sich ihre Zahl bis zu Beginn der NS-Zeit auf ca. 50 jüdische Einwohner reduziert, deren Zahl bis Kriegsbeginn fast unverändert blieb.

Während der jüdische Friedhof heute nicht mehr besteht, hat das Rosenberger Synagogengebäude die Zeitläufte äußerlich unversehrt überdauert.

                          Ehem. Synagoge in Rosenberg (Aufn. Seweryn Szczepanski, um 2010)

vgl. dazu: Rosenberg (Ostpreußen)

 

 

 

In Garnsee (poln. Gardeja, derzeit ca. 2.300 Einw.), einer kleinen Ortschaft im südlichen Teil des Kreises Marienwerder, lebten im 19.Jahrhundert nur wenige jüdische Familien (max. etwa 50 Pers.); als Filialgemeinde gehörten sie der Synagogengemeinde Marienwerder an. Neben einem Gebetsraum im Privathaus des Eisenhändlers Friedrich Gehrke (Graudenzer Str.) war auch eigenes kleines Begräbnisareal auf einem Hügel in der Nähe des Kaminsees vorhanden; davon gibt es heute keine Spuren mehr.

2015 fand man zufällig in einem trocken gefallenen Teich eine Grabstele, die der 1850 geborenen und 1920 verstorbenen Rosa Mamlock geb. Itzig zugeordnet werden konnte. Dieser Zufallsfund war nun der Anlass für weitere Recherchen zum ehemaligen jüdischen Friedhof bzw. zu den ehemaligen jüdischen Bewohnern von Garnsee/Gardeja. Aufgefunden wurden dann weitere Grabsteine. Ein alsbald ins Leben gerufenes deutsch-polnische Projekt unter der Bezeichnung „Gardeja Memorial“ zielt auf die Schaffung einer Gedenkstätte zur Völkerverständigung und zur Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Bewohner. Zur Realisierung dieser Aufgabe hat der Berliner Kaufmann Michael Mamlock eine Stiftung ins Leben gerufen.

 

 

 

Mewe/Weichsel, Lithographie um 1855 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

In der am linken Weichselufer liegenden Ortschaft Mewe (poln. Gniew, derzeit ca. 6.800 Einw.) – einige Kilometer nordwestlich von Marienwerder – haben sich kurz nach 1800 jüdische Familien sesshaft gemacht. 1812 sollen es schon 47 Haushalte gewesen sein. Nachdem sich um 1820 eine Gemeinde konstituiert hatte, errichtete man ein Synagogengebäude und legte etwa zeitgleich einen Friedhof an.

Juden in Mewe:

--- 1812 ...........................   47 jüdische Haushalte,

--- 1831 ..........................  164 Juden (ca. 9% d. Bevölk.),

--- 1846 ..........................  253   “  ,

--- 1871 ..........................  311   “  ,

--- 1880 ..........................  243   “  ,

--- 1890  ..........................  142   "  ,

--- 1898 ..........................  128   “  ,

--- 1907 ..........................  110   “  ,

--- 1913 ..........................   93   “  ,

--- 1921 ...................... ca.   20   “  ,

--- 1931 ..........................    9   “  .

Angaben aus: Gerhard Salinger, Zur Erinnerung und zum Gedenken. Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens, Teilband 3, S. 559 f.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten keine jüdischen Familien mehr in der Kleinstadt.

Vom einstigen jüdischen Friedhof sind heute keinerlei Grabanlagen mehr aufzufinden.

 

 

 

Weitere Informationen:

K.J. Kaufmann, Geschichte der Stadt Rosenberg in Westpreußen, Rosenberg 1937

Otto Gründer (Hrg.), Marienwerder - Westpreußen. Aus dem Leben einer deutschen Stadt an der unteren Weichsel, Celle 1955

Max Aschkewitz, Der Anteil der Juden am wirtschaftlichen Leben Westpreußens um die Mitte des 19.Jahrhunderts, in: "Zeitschrift für Ostforschung", 11/1962, S. 482 ff.

Max Aschkewitz, Zur Geschichte der Juden in Westpreußen, in: Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas, hrg. vom Johann-Gottfried-Herder-Institut No. 81, Marburg 1967

Kazimierz Wajda (Bearb.), Die Juden im südlichen Westpreußen (Regierungsbezirk Marienwerder) im 19.Jahrhundert, in: Brocke/Heitmann/Lordick (Hrg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Georg Olms Verlag, 2000, S. 343 ff.

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 795, S. 1077 und S. 1092

Gerhard Salinger, Zur Erinnerung und zum Gedenken. Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens, Teilband 3, New York 2009, S. 535 – 537 (Garnsee), S. 538 – 556 (Marienwerder) und S. 557 – 560 (Mewe), S. 580 – 588 (Riesenburg) und S. 589 – 598 (Rosenberg)

Kwidzyn, in: sztetl.org.pl

Ryszard Bartosiak (Red.), Das Geheimnis von Rosa Malock, in der polnischen Zeitung „Kurier Kwidzyński“ vom Nov. 2015

Mamlock-Foundation (Hrg.), Jewish Garnsee – The wonder of the Emergence of a sunken world, online abrufbar unter: mamlock-foundation.com/projects/?lang=en

K. Bielawski (Bearb.), Friedhof Kwidzyn – Marienwerder, Hrg. Jews in East Prussia – History and Culture Society, online abrufbar unter: jewsineastprussia.de/cemetery-kwidzyn-marienwerder/

Andreas C. Schneider (Red.), Das Geheimnis der Rosa Mamlock, in: “Jüdische Rundschau” vom 6.6.2019 (betr. Garnsee/Gardeja)