Misslitz (Mähren)

Misslitz, seit 1553 mit Marktrechten versehen, war eine kleine Ortschaft im südwestlichen Teil Mährens im Znaimer Kreis; es ist das heutige tschechische Miroslav mit derzeit ca. 3.000 Einwohnern - ca 25 Kilometer nordöstlich von Znaim/Znojmo (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: europe1900.eu  und  Kartenskizze 'Tschechien' mit Miroslav rot markiert).

Jüdische Gemeinde - Schaffa (Mähren)

Ehemalige jüdische Siedlungsorte Südmährens rot markiert (aus: Gerhard Hanak, Juden in Mähren – Judengemeinden in Südmähren, online abrufbar unter europas-mitte.de)

 

Urkundlich verbrieft sind Ansiedlungen von Juden in Misslitz im 16.Jahrhundert zur Zeit der Türkenkriege; vermutlich hatten aber bereits um 1455 aus den königlichen Städten (Brünn, Iglau, Olmütz und Znaim) vertriebene Juden hier eine Gemeinde gebildet. Vor dem Dreißigjährigen Krieg soll in Misslitz eine recht große jüdische Gemeinde bestanden haben; nach Kriegsende war diese dann auf nur drei Familien zusammengeschmolzen. In den folgenden Jahrzehnten wanderten vor allem Juden aus Russland und Wien zu, die vor Pogromen geflohen oder vertrieben worden waren.

Befanden sich die Juden zunächst unter weltlicher Schutzherrschaft (dem Gutsherrn Graf Rudolf von Schaumburg), standen sie seit der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts unter der Obhut der geistlichen Herren vom Kloster Bruck. Der Abt hatte sie gegen die überaus hohen Abgaben des Gutsherrn in Schutz genommen, um sie dann danach aber ebenfalls mit hohen Abgaben zu belasten.

Im 18.Jahrhundert hatte sich die Zahl der in Misslitz lebenden jüdischen Familien weiter vergrößert; ihren Lebensunterhalt verdienten sie zumeist als Kaufleute, als Schneider und Hausierer. Sie lebten ghettoartig in relativ wenigen Häusern zusammen, was dazu führte, dass die meisten Familien nur über einen einzigen Raum verfügten. Von 1727 bis 1867 bildete die Judengasse mit ihren Bewohnern fast eine autonome religiöse und politische Gemeinde, die von einem Vorsteher geführt wurde; ihm zur Seite stand der Gemeinde- und Kultusvorstand, der wiederum der Ortsbehörde der Marktgemeinde unterstand. 1867 erfolgte eine Trennung in eine politische und eine religiöse Gemeinde; erstere wurde Mitte der 1920er Jahre aufgelöst; seitdem gehörten seine Vertreter der Kommunalgemeinde Misslitz an.

Die Judenschaft von Misslitz verfügte während der „Ghettozeit“ über eine Synagoge und einen Friedhof, ein Spital, ein Gemeindehaus und eine Fleischbank mit vier Ställen.

Aus „Historische Beschreibung des kais.- königl. Religionsfondguths Misslitz, 1802”:

„ ... Die Häuser der Juden sind viel unregelmäßig, winkelhaft und weniger standhaft, auch nur zum minderen Teil mit Schindeln eingedeckt und werden aus Armuth ihrer Besitzer nur aufs nothdürftigste konserviert. Die Kamine der Häuser sind so bei Christen als bei Juden durchaus gemauert und zur Feuersicherheit in proportionierter Höhe aufgeführt. Die Obrigkeit unterstützte die Bauten dadurch, daß sie die Ziegel für die Kamine zum Erzeugungspreis überließ, ... In der Judengasse sind Brunnen und Wasserbehälter.  ... fast gänzlich verarmt sind, obschon es schwer hält, den wahren Vermögensstand eines Juden zu ergründen, so ist man doch aus verschiedenen Vorfällen überzeugt, daß nur sehr wenige von Ihnen gut fortkommen, die übrigen leben schlecht, sehr viele höchst elend, denn sie nähren sich von einem Tag zum anderen von unbedeutenden Kramhandel bei Hause, vom Hausieren und von geringfügigem Ertrag der ihrer Nazion eigenen Spekulationen. ...”

(aus: Ernst Reich, Geschichte der Juden in Misslitz, S. 391)

Ende der 1820er Jahre entschloss sich die jüdische Gemeinde zum Bau eines Gemeindehauses, in dem die Schule, die Gemeindekanzlei, eine Mikwe und die Wohnungen der Kultusbeamten untergebracht waren; auch die so genannte ‚Rabbinerkapelle’ fand im Obergeschoss des Gemeindehauses Platz. Ein größerer Synagogenbau, der eine erhebliche finanzielle Belastung für die Misslitzer Judenschaft bedeutete, wurde unter Beteiligung zahlreicher Menschen 1845 festlich eingeweiht.

Über den Tempel von Misslitz liegt folgende Schilderung vor:

„ ... Zu Pessach war der Bau des Tempels bis auf die Inneneinrichtung abgeschlossen. Nachdem auch diese besorgt war, schritt man an die Vorbereitungen zur Einweihung. Es sollte von nun an ein moderner Gottesdienst nach Wiener Art eingeführt werden. Einige Konservative ... sträubten sich wohl dagegen, aber die Fortschrittlichen behielten die Oberhand. Es wurden der Wiener Prediger Isak Noe Mannheimer ... und der Wiener Oberkantor Sulzer eingeladen, bei der Feier mitzuwirken. Sulzer übte selbst die Chöre ein. Angesichts einer großen Volksmenge aus nah und fern wurde der Tempel eingeweiht, Mannheimer hielt die Festrede. 72 Beamte und Geistliche hatten sich eingefunden  ... Auch alle Nachbargemeinden (Pohrlitz, Eibenschitz, Nikolsburg u.a.) beteiligten sich an der Feier; die Behörden waren ... vertreten. Der Bau erhebt sich in der Mitte der Judengasse und ist in romanischem Stil aufgeführt; innen ähnelt er dem Seitenstetter Tempel in Wien. Er ist sehr stattlich und legt beredtes Zeugnis für den edlen Wohltätigkeitssinn unserer Vorfahren und den guten Geschmack derer, welche das Werk geleitet haben, ab. Die Synagoge trägt an der südlichen Vorderseite die in Marmor gemeißelte Aufschrift: Erbauet im zehnten Jahre der glorreichen Regierung Seiner Majestät des Kaisers Ferdinand I. ...“

(aus: Ernst Reich, Geschichte der Juden in Misslitz, S. 398)

  Synagoge u. Almemor (hist. Aufn., aus: H. Gold)

Eine jüdische Schule existierte in Misslitz schon im 18.Jahrhundert; ab den 1780er Jahren erfolgte der Unterricht auch in deutscher Sprache; erst nach 1918 wurde Tschechisch als Unterrichtssprache obligatorisch. 1922/1923 wurde die Schule aufgelöst.

Die Anlage des jüdischen Friedhofs soll bereits zu Beginn des 17.Jahrhunderts erfolgt sein; die ältesten lesbaren Grabinschriften tragen die Jahresangaben 1691 bzw. 1693

   Tombstone Hebrew 3einer der ältesten Grabsteine (Abb. aus: grave-pictures.at)

Juden in Misslitz:

    --- um 1650 .........................     3 jüdische Familien,

    --- um 1670 .........................    18     “       “    ,

    --- um 1755 ..................... ca.    65     “       “    ,

    --- 1801 ............................   448 Juden (in 119 Familien),*

    --- um 1820 ..................... ca.   120 jüdische Familien,*

    --- 1835 ........................ ca.   700 Juden,*

    --- 1857 ............................ 1.032   “  ,*

    --- 1869 ............................   411   “  ,*

    --- 1890 ........................ ca.   370   “  ,*

             ............................   128   “  ,

    --- 1900 ............................   350   “  ,*

             ............................   178   “  ,

    --- 1927 ............................   450   “  ,*      * gesamte Gemeinde

    --- 1935/40 ..................... ca.   300   “  .

Angaben aus: Theodor Haas, Juden in Mähren - Darstellung der Rechtsgeschichte ..., S. 60

und                 Ernst Reich, Geschichte der Juden in Misslitz

    Miroslav, foto před rokem 1895.jpgMisslitz (Aufn. um 1895, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)

 

Während der Zeit des Ersten Weltkrieges gelangten etwa 300 jüdische Flüchtlinge aus Galizien nach Misslitz, die von der hiesigen jüdischen Gemeinde unterstützt wurden. Die Kinder der Flüchtlinge besuchten hier eine eigens für sie eingerichtete Schule. Nach Kriegsende kehrten die meisten galizischen Juden wieder in ihre Heimat zurück.

Ende 1924 wurde die politische Judengemeinde aufgelöst; ab dieser Zeit vertraten nun drei jüdische Stadträte die Belange der hiesigen Judenschaft, die sich Mitte der 1920er Jahre aus ca. 450 Mitgliedern zusammensetzte.

Im Zusammenhang der sog. „Sudetenkrise” verließ die Mehrheit der hiesigen Juden die Stadt; unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurden fast alle in Misslitz verbliebenen Juden ins Innere von Mähren abgeschoben. Nur wenige der ca. 300 bis in die NS-Zeit der Misslitzer Gemeinde angehörenden Juden konnten sich ins sichere Ausland retten; die meisten wurden während der Kriegsjahre Opfer des Holocaust.

 

Der jüdische Friedhof, der schon fast in Vergessenheit geraten war, ist inzwischen vorbildlich hergerichtet worden. Mehr als 200 Grabmäler wurden restauriert; zahlreiche aus Sandstein gefertigte sind hochgradig verwittert, sodass deren Inschriften kaum mehr lesbar sind; die ältesten hier vorhandenen Steine datieren aus dem ausgehenden 17.Jahrhundert.

File:Miroslav cemetery 14.JPG

Jüdischer Friedhof Misslitz mit Taharahaus (Aufn. Fet'our, 2011, aus: wikipedia.org, CCO)

Der einstige jüdische Wohnbezirk wurden gegen Kriegsende durch Bombeneinwirkung schwer beschädigt und ist heute nur noch in Resten erhalten. Das ehemalige Synagogengebäude, das während der Kriegsjahre landwirtschaftlichen Zwecken diente, wird heute von der Kommune als Kulturhaus genutzt.

Miroslav-kulturní-dům-bývalá-synagoga2017.jpg Ehem. Synagogengebäude (Aufn. Ben Skála, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

 

Weitere Informationen:

Theodor Haas, Juden in Mähren - Darstellung der Rechtsgeschichte und Statistik unter besonderer Berücksichtigung des 19.Jahrhunderts, Brünn 1908

Hugo Gold, Geschichte der jüdischen Gemeinden in Mähren, Brünn 1926

Ernst Reich (Bearb.), Geschichte der Juden in Misslitz, in: Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Sammelwerk, Jüdischer Buch- und Kunstverlag, Brünn 1929, S. 387 - 405

Hygin Elbling, Ortsgeschichte der Marktgemeinde Mißlitz, Gersthofen 1973

Hugo Gold, Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden Mährens, Olamenu-Verlag, Tel Aviv 1974, S. 89 - 91

Hygin Elbling, Ortsgeschichte der Judengemeinde Mißlitz, Gersthofen 1978

Wilma Iggers (Hrg.), Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch, München 1986

Gerhard Hanak (Bearb.), Juden in Mähren – Judengemeinden in Südmähren, online abrufbar unter: europas-mitte.de

Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938 - 1945, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 105, Verlag R. Oldenbourg, München 2006

Jewish Families from Miroslav (Misslitz), Moravia, Czech Republic, online abrufbar unter: geni.com/projects/Jewish-Families-from-Miroslav-Misslitz-Moravia-Czech-Republic/13149 (mit Namensliste - Kurzbiografien)

The Jewish Community of Miroslav, Czech Republic, in: Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish people, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/miroslav-czech-republic