Raesfeld (Nordrhein-Westfalen)

Datei:Raesfeld in BOR.svg Raesfeld – derzeit ca. 11.500 Einwohner zählend – ist eine Kommune des Landkreises Borken in der Region Lippe-Issel-Niederrhein im Nordwesten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen – zwischen Borken (N) und Dorsten (S) gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Borken' mit Raesfeld rot markiert, TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Erste urkundliche Hinweise für die Existenz von Juden in der Region um Raesfeld im Fürstbistum Münster stammen aus der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts vor; dauerhaft dürften sich Juden aber wohl erst ab Mitte des 17.Jahrhunderts angesiedelt haben. Im Laufe der Jahrhunderte waren es immer nur wenige jüdische Familien, die im Dorfe Raesfeld lebten.

Seit Anfang der 1720er Jahre gab es einen ersten kleinen jüdische Friedhof in Raesfeld. Das außerhalb des Dorfes gelegene Areal (südlich des Raesfelder Schlosses) war auf Grund eines Schenkungsvertrages des Schlossherrn Alexander-Otto von Velen der jüdischen Gemeinde abgetreten worden. Auf Grund vollständiger Belegung der bisherigen Begräbnisstätte wurde diese um 1860 durch ein größeres Beerdigungsgelände („Im Brook“) ersetzt; der Ankauf dieser brachliegenden Fläche erfolgte durch den Vorsteher der jüdischen Gemeinde, den Handelsmann Levi Rosenheim.

Aus einem Schreiben des Raesfelder Bürgermeisters an den Landrat vom Februar 1818, in dem er die Lebenssituation der hier lebenden Juden erläutert:

... Die Raesfelder Judenschaft lebt vom Hausieren vorzüglich. Das Hausieren betreiben sie sehr wenig in der hiesigen Bürgermeisterei, aber mehrenteils in dem hier angrenzenden vormaligen Clevischen, als Brünen, Wesel und umliegenden Örtern, nach welchen sie auch um einen Handels-Paß ansuchen. Daß sie allda guten Handel treiben können, kann ich mir vorstellen, weil sie mehrmals nach vollendeter Sabbatfeier dahin wandern und erst vor Anfang der Sabbatfeier allhier wieder eintreffen. Dagegen hausieren hier auswärtige Juden, ... Die Bildung der hiesigen Judenkinder ist nach meinem Ansehen ordentlich, denn nebst dem, daß sie mit den christlichen Kindern sehr verträgsam und Zänkereien dabei ausweichen, sind gegen Ältere ehrbietsam und übertreffen darin viele Kinder der Christen. ...

Ab 1812 diente eine Kammer in einer Scheune als Betraum für die Raesfelder Juden; im Sommer 1863 wurde gegenüber der Pfarrkirche ein neu errichtetes Synagogengebäude eingeweiht; der schlichte Backsteinbau, der über dem Eingang in hebräischer Schrift den Vers „Höre Israel, König der Welt ist Gott, mein Herr, mein einziger Gott“ trug, besaß neben der Frauenempore auch einen Schulraum und eine Mikwe.

(Skizze und Beschreibung der Synagoge siehe: heimatverein-raesfeld.de/juedische-spuren.html)

Regelmäßiger Religionsunterricht wurde aber erst nach 1900 eingeführt; zusammen mit den Kindern aus dem Nachbarort Gemen wurden die wenigen hiesigen Kinder in der Synagoge Raesfeld von einem jüdischen Lehrer unterrichtet. Eine zweiklassige Elementarschule existierte zwischen 1835 und 1880. Zu besonderen Anlässen - wie Hochzeiten oder Beerdigungen - kam der zuständige Rabbiner aus Borken oder Recklinghausen nach Raesfeld. Raesfeld gehörte ab 1853 als Filialgemeinde zum Synagogenbezirk Borken.

Juden in Raesfeld:

         --- um 1685 .......................  2 ‘Schutzjuden’-Familien,

    --- um 1807 .......................  3       “           “   ,

    --- 1822 .......................... 24 Juden,

    --- 1850 .......................... 41   “  ,

    --- 1861 .......................... 38   "  ,

    --- 1872 .......................... 20   “  ,

    --- 1892 .......................... 52   “  ,

    --- 1910 .......................... 52   “  ,

    --- 1925 .......................... 47   “  ,

    --- 1932 .......................... 22   “  ,

    --- 1937 (Okt.) ................... 25   “  ,

    --- 1939 (Febr.) .................. 20   “  ,

    --- 1942 ..........................  8   “  ,

    --- 1943 ..........................  keine.

Angaben aus: Adalbert Friedrich, Die jüdische Gemeinde von Raesfeld, S. 202

 

Die jüdischen Familien in Raesfeld lebten seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts vom Viehhandel. Nach einem angeblichen Ritualmord in Xanten (1891) waren auch in Raesfeld antisemitische Tendenzen spürbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten die jüdischen Bewohner Raesfelds weitgehend sozial integriert.

Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch sehr wenige jüdische Familien in Raesfeld. Der nach der NS-Machtübernahme 1933 angeordnete Boykott jüdischer Geschäfte wurde hier nicht durchgeführt; die allermeisten Dorfbewohner hatten noch bei den letzten Reichstagswahlen traditionell die Zentrumspartei gewählt. Die NSDAP hatte es hier schwer, überhaupt eine Ortsgruppe zu bilden. Doch nach und nach wirkte auch in Raesfeld die NS-Propaganda: So mieden z.B. immer mehr „Volksgenossen“ den Laden des jüdischen Schlachters Herz Elkan.

Auch Gewalttätigkeiten im Nachbarort Gemen - hier wurde im Mai 1935 die Synagoge überfallen - schüchterten die Dorfbevölkerung immer mehr; Kontakte zu jüdischen Mitbewohnern wurden nun eingestellt. Der im Dorfe aufgestellte sog. „Stürmer“-Kasten, in dem auch persönlich diffamiert wurde, diente dem gleichen Zweck. Auf einer „Stürmer”-Seite hieß es: „Der Volksgenosse Heinrich Rickert, wohnhaft in dem Kirchspiel No. 120 zu Raesfeld, unterhält sich heute noch mit dem Juden Herz Elkan auf offener Straße.” Mit der Auferlegung weiterer Beschränkungen - so war Juden z.B. der Besuch von Viehmärkten verboten - war die wirtschaftliche Existenz der jüdischen Familien ernsthaft bedroht; deshalb verließen einige Familien den Ort und gingen ins benachbarte Holland.

Nach einer Gedenkstunde der NSDAP-Ortsgruppe zu Ehren der „Märtyrer der Bewegung” kam es in den frühen Morgenstunden des 10.November 1938 auch in Raesfeld zu Gewaltaktionen: Die Synagoge wurde von SS-Angehörigen aus Wesel aufgebrochen und anschließend das Gebäude mit Hilfe von Brandbeschleunigern in Brand gesetzt; daran beteiligt waren auch einige Raesfelder Nationalsozialisten. Die bereits angerückte Feuerwehr schützte die Nachbargebäude vor einem Übergreifen des Feuers. Dorfbewohner sollen ihr Missfallen über diesen Brandanschlag ausgedrückt haben. Im Anschluss an die Brandlegung zog ein kleiner NS-Trupp durchs Dorf und demolierte die Häuser jüdischer Bewohner; Türen wurden eingetreten und das Inventar auf die Straße geworfen. Einige jüdische Männer wurden im Spritzenhaus eingesperrt.*      * Bereits am Abend des 9.November soll es in Raesfeld zu Gewalttätigkeiten gekommen sein.

Der jüdische Friedhof wurde zunächst nicht zerstört; im Laufe des Jahres 1940 soll eine hier stationierte SS-Einheit das Friedhofsareal geschändet haben. 

Die ersten Raesfelder Juden wurden Mitte Dezember 1941 ins Ghetto Riga verfrachtet. Mit dem Abtransport der letzten noch verbliebenen acht Bewohner Ende Juli 1942 nach Theresienstadt - sie waren zuvor zwangsweise in das Haus des jüdischen Ehepaares Lebenstein (Weseler Straße) einquartiert worden - endete jegliches jüdische Leben in Raesfeld.

Im Gedenkbuch des Bundesarchivs sind 42 in Raesfeld gebürtige bzw. hier länger wohnhaft gewesene Personen mosaischen Glaubens aufgeführt, die in der NS-Zeit deportiert/ermordet wurden (vgl. dazu Personenliste in: heimatverein-raesfeld.de/juedische-spuren.html).

 

Vor der katholischen Kirche in Raesfeld erinnert seit 1987 eine Gedenk-Stele an die ehemalige jüdische Gemeinde des Dorfes. In Stein gehauen sind die Namen der 36 jüdischen Dorfbewohner, die zwischen 1941 und 1945 in Ghettos und Konzentrationslagern ums Leben gekommen sind. Zudem besitzt die Stele trägt unter der Abbildung einer Menora die folgende Inschrift:

Zum Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger, die über 250 Jahre mit uns gelebt haben.

In den Jahren des Nationalsozialismus wurden sie verfolgt, ihre Synagoge (1863 - 1938) zerstört,

und ihre Familien kamen in den Konzentrationslagern um.

Gedenkstein an der Kirche St. Martin 4 Gedenkstein an der Kirche St. Martin, S. 1 Vorder- u. Rückseite der Gedenkstele (Abb. Heimatverein Raesfeld e.V.)

Zwei Informationstafeln in unmittelbarer Nähe der Pfarrkirche St. Martin machen seit 2008 auf die ehemalige Synagoge aufmerksam. Bauliche Reste eines 2004 wiederentdeckten Ritualbades konnten zeitgleich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

In Raesfeld wurden 2009/2011/2013 an mehreren Standorten sog. „Stolpersteine“ verlegt; insgesamt sind derzeit in den Gehwegen ca. 20 Steine aufzufinden (Stand 2022).

Stolperstein Emma ElkanStolperstein Moses Elkan Stolperstein Herz ElkanStolperstein Jette ElkanStolperstein Malchen Elkan

Stolpersteine“ in der Borkener Str. und Weseler Str. (Aufn. aus: heimatverein-raesfeld.de/juedische-spuren.html)

2011 enthüllte man am sog. „Judenhaus“ eine Gedenktafel, die die folgenden Sätze trägt:

Raesfelder Judenhaus   Im Frühjahr 1942 wurden die letzten Juden der Gemeinde zwangsweise in das Haus Wedeler Straße 12 der jüdischen Eheleute Herz Elkan und Rosa Lebenstein einquartiert. Das NS-Regime begründete dieses fadenscheinig mit der Wohnungsnot, die durch alliierte Luftangriffe in den deutschen Städten entstand. Zwangsenteignungen und Zwangsumsiedlungen von Juden fanden unter dem Begriff „Evakuierung“ im gesamten Deutschen Reich statt. Am Montag, dem 27.Juli 1942, wurden die letzten jüdischen Mitbürger der Gemeinde aus dem „Judenhaus“ nach Riga und Theresienstadt deportiert.

In Raesfeld wohnten seit dem 17.Jahrhundert Juden.      Das Erinnern an sie ist uns Raesfelder Bürgern ein Anliegen.          SHALOM

Gedenktafel am Raesfelder JudenhausAbb. Heimatverein Raesfeld (Anm: Die Gedenktafel befindet sich heute nicht mehr am Gebäude)

Von den beiden jüdischen Friedhöfen - zuletzt wurde das ca. 1.800 m² große Begräbnisgelände „Am Pölleken“ genutzt - sind keine bzw. nur noch wenige Überreste (elf Grabsteine auf dem jüngeren Begräbnisgelände) vorhanden.

                  File:Raesfeld, Jüdischer Friedhof.jpgGrabstätten (Aufn. Hans Boersting, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

 

undefined  In Erle – einem heutigen Ortsteil der Kommune Raesfeld, derzeit ca. 3.700 Einw. (Skizze C., 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0) – lebten nur sehr wenige jüdische Bewohner. Im 19.Jahrhundert beschränkte sich deren Zahl nur auf die Angehörigen der Familie Cahn, die im Dorf ein kleines Textilwarengeschäft betrieben. In der NS-Zeit wurden die meisten Familienmitglieder deportiert und fanden in den Lagern einen gewaltsamen Tod.

Auf dem 1872 an der Schermbecker Straße angelegten Friedhof fanden ausschließlich Verstorbene dieser Familie ihre letzte Ruhe. Auf dem ca. 240 m² großen Areal sind aber heute keine Grabsteine mehr vorhanden; nur eine Infotafel weist heute auf diese Begräbnisstätte hin.

 Zum Gedenken an Emma und Jettchen Cahn erinnern an ihren letzten Wohnsitz in Essen-Borbeck zwei sog. "Stolpersteine“ (Aufn. M.Kleerbaum, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

Im Jahre 2002 benannte die Kommune Raesfeld eine Straße in Erle nach der 1941 deportierten Jüdin Else Cahn - stellvertretend für die gesamte verschleppte u. ermordete Familie Cahn.

 

 

 

Weitere Informationen:

Diethard Aschoff, Zur älteren Geschichte der Juden in der Herrlichkeit Lembeck, in: "Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck 1984", S. 141 ff. (betr. Erle)

Adalbert Friedrich, “Man zieht nicht mehr das Schwert ... ” - Gedenkstein an die jüdischen Mitbürger in Raesfeld enthüllt, in: "‘Unsere Heimat’. Jahrbuch des Kreises Borken 1987", S. 43/44

Adalbert Friedrich, Die jüdische Gemeinde von Raesfeld - Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Westfalen, Hrg. Heimatverein Raesfeld e.V., Raesfeld 1988 (2.Aufl.)

A.Friedrich/I.Sönnert, Die jüdische Gemeinde in Raesfeld und Erle, in: Gemeinde Raesfeld (Hrg.), Raesfelder Geschichtsbuch “Damals”, Raesfeld 1995, S. 517 ff.

Günter Birkmann/Hartmut Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 204/205

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 438/439

Elisabeth Schwane (Bearb.), Erinnerungen an Else Cahn, in: „Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck“,2000, S. 123 ff. (betr. Erle)

Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Regierungsbezirk Münster, J.P.Bachem Verlag, Köln 2002, S. 102 - 106

Franz Liebetanz, Heimatverein will an Synagoge erinnern, in: "Borkener Zeitung" (Teil Raesfeld) vom 19. 6. 2004

Hermann Tünte, Stumme Zeugen der jüdischen Gemeinde, in: "Borkener Zeitung" (Teil Raesfeld) vom 26. 10. 2004

Volker Jakob (Red.), Raesfeld im Zweiten Weltkrieg: Die Ruine der Synagoge, Hrg. Internetportal „Westfälische Geschichte“, online abrufbar unter: lwl.org

Adalbert Friedrich (Bearb.), Raesfeld, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV", Ardey-Verlag, München 2008, S. 567 - 574

Auflistung der in Raesfeld verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Raesfeld

Heimatverein Raesfeld e.V. (Hrg.), Jüdische Friedhöfe, online abrufbar unter: heimatverein-raesfeld.de/juedische-spuren.html (Anm. mit detaillierten Angaben zur jüdischen Ortshistorie, u.a. auch mit namentlicher Nennung der jüdischen Opfer)

Mark Schrader, Die Raesfelder Mikwe: eine Leiter als Stummer Zeuge, in: "Archäologie in Westfalen-Lippe", 2012, S. 176 - 179

Jüdischer Friedhof in Erle, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Jüdischer_Friedhof_(Erle)

Walter Schiffer, Die Grabinschriften auf dem jüdischen Friedhof in Raesfeld, in: "Westmünsterland – Jahrbuch des Kreises Borken 2019", S. 245 - 250

Petra Bosse (Red.), Ein Spaziergang zu den Orten jüdischen Lebens in Raesfeld, in: „Heimat Report“ vom Jan. 2022