Künzelsau/Kocher (Baden-Württemberg)
Künzelsau mit derzeit ca. 16.500 Einwohnern ist die Kreisstadt des Hohenlohekreises im fränkisch geprägten Nordosten Baden-Württembergs - ca. 30 Kilometer südlich von Bad Mergentheim bzw. nördlich von Schwäbisch-Hall gelegen (Karte der Hohenlohebahn, Kj. 2007, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0 und Kartenskizze 'Hohenlohekreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Bereits im 13.Jahrhundert sollen in Hohenlohe – im mittleren Kocher- und Jagsttal – Juden gelebt haben. Auch Künzelsau gehörte zu den Orten, wo sie sich ansässig gemacht und eine eine kleine Gemeinde gebildet hatten, die Ende des 13.Jahrhunderts durch Pogrome teilweise vernichtet wurde. Während des 16.Jahrhunderts lebten die Juden Künzelsaus zumeist in der Scharfengasse, in der sich auch die Synagoge befand. Während die Herren von Stetten jüdische Ansiedlung gestatteten, versuchten andere Ortsherrschaften diese wieder rückgängig zu machen. 1580/1581 wurden die jüdischen Familien aus Künzelsau vertrieben. Nach der endgültigen Ausweisung der jüdischen Bewohner im Jahre 1599 siedelten sich bis ins 19.Jahrhundert hinein keine Juden mehr in Künzelsau an. Um 1850 bildete sich wieder eine israelitische Gemeinde, die um 1880 mit ca. 120 Angehörigen ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte.
Die Geschichte der neu erstandenen jüdischen Gemeinde ist eng verknüpft mit der ihrer Muttergemeinde Nagelsberg, welche später den Namen „Nagelsberg-Künzelsau“ und ab 1900 „Künzelsau“ trug. Gottesdienste hielt die hiesige Judenschaft zunächst in angemieteten Privaträumen ab; bis zur Fertigstellung ihrer eigenen Synagoge suchten die Gemeindemitglieder an den Festtagen die im nahen Nagelsberg auf.
Ein seitens der Kultusgemeinde angestellter Lehrer war zugleich auch als Vorbeter und Schochet tätig.
Stellenangebote aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 26. Nov. 1891 und vom 28.Juni 1928
Im Jahre 1907 konnte das neuerrichtete Synagogengebäude in der Kanzleistraße/Konsul-Uebele-Straße feierlich eingeweiht werden; es verfügte über ca. 200 Plätze.
Synagoge in Künzelsau (links: hist. Aufn. - rechts: aus Sammlung P. Karl Müller, in: wikipedia.org, CCO)
Die Zeitschrift „Der Israelit” berichtete in ihrer Ausgabe vom 12.September 1907 über die feierliche Einweihung des Synagogenbaues:
Künzelsau, 2. Sept. Die hiesige israelitische Gemeinde beging am 30. August die Einweihung ihrer neuerbauten Synagoge. Unter der Leitung von Oberamtsbaumeister Ganzenmüller wurde diese binnen Jahresfrist an der neuangelegten Kanzleistraße, umgeben von grünen Gärten, erstellt und bildet mit ihren beiden Kuppeltürmchen und ihrem geschmackvoll ausgeführten Portal eine Zierde dieses Stadtteils. An der Feier nahm die ganze Stadt regen Anteil, was durch die Beflaggungen der Straßen ... zum Ausdruck kam. Unter Böllerschießen und mit Musikbegleitung bewegte sich ein stattlicher Zug von dem bisherigen Mietlokal zum neuen Gotteshaus, ... Die Festpredigt hielt Bezirksrabbiner Dr. Berlinger. Kirchenrat Dr. Kroner überbrachte die Wünsche der Oberkirchenbehörde. Im Rappensaal fand ein gut besuchtes Festbankett statt. ...
Verstorbene Juden aus Künzelsau wurden auf dem israelitischen Friedhof in Hohebach beerdigt, der auch anderen Gemeinden der Region - wie Altkrautheim, Ailringen, Dörzbach, Mulfingen, Hollenbach und Laibach – zur Nutzung zur Verfügung stand. Das von einer Mauer eingefriedete Friedhofsgelände befindet sich in Hanglage zwischen ehemaligen Weinbergen.
Die Nagelsberger-Künzelsauer Gemeinde gehörte bis 1900 zum Rabbinatsbezirk Braunsbach, danach zu dem von Schwäbisch-Hall.
Juden in Künzelsau:
--- 1869 ........................... 30 Juden,
--- 1880 ........................... 119 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1890 ........................... 103 " ,
--- 1900 ........................... 114 “ ,
--- 1910 ........................... 92 “ ,
--- 1925 ........................... 78 “ ,
--- 1933 ........................... 65 “ .
Angaben aus: Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, S. 110
Künzelsau um 1910 (Aufn. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Die jüdischen Familien spielten im wirtschaftlichen Kleinstadtleben eine nicht unbedeutende Rolle; mehrere Großhandlungen für Landesprodukte, Gewerbebetriebe und Einzelhandelsgeschäfte sowie eine Gastwirtschaft waren im Besitz von Juden.
Anzeigen jüdischer Gewerbetreibender 1872/1928
Platz vor dem Rathaus (hist. Postkarte, um 1935)
Das Fachwerkhaus (hinten rechts im Bild) ist das Textilkaufhaus des jüdischen Kaufmanns Max Ledermann; sein Geschäft war im alten Ganerbenhaus "Mainzer Haus" untergebracht.
Bereits kurze Zeit nach der NS-Machtübernahme waren die in Künzelsau lebenden jüdischen Bürger körperlichen Angriffen und Misshandlungen ausgesetzt. Im März 1933 hatte der Heilbronner SA-Standartenführer Fritz Klein im Künzelsauer Rathaus sein Hauptquartier eingerichtet und von hier aus mit SA-Trupps ‚Jagd’ auf NS-Gegner und Juden in der Region Tauber/Kocher gemacht.
Bei diesem als „Waffensuchaktion“ bezeichneten Vorgehen wurde der jüdische Lehrer Julius Goldstein (er emigrierte 1939 mit Familie in die USA) von SA-Leuten auf das Rathaus geschleppt und schwer misshandelt. Vor Aufregung über diesen „Vorfall“ verstarb der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Kaufmann Max Ledermann, an einem Herzschlag. Ein anderes Gemeindemitglied, David Furchheimer, nahm sich in diesem Zusammenhang das Leben.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die hiesige Synagoge zerstört; anders als bei fast allen anderen Brandstiftungen fand diese erst am Abend des 10.November statt. Dabei wurde die herbeigeeilte Feuerwehr von SA-Angehörigen massiv am Löschen des Brandes gehindert. Künzelsauer Juden wurden verhaftet und abtransportiert, vermutlich ins KZ Dachau.
Aus einer Kurzmeldung im „Kocher- und Jagstboten” vom 11.11.1938:
Volkszorn gegen die Juden
Künzelsau, 11.Nov. Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten ... haben sich im ganzen Reich spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. ... Der Zorn des Volkes galt in erster Linie den Brutstätten des jüdischen Verbrechergeistes, den Synagogen. Diese wurden gestern in Künzelsau, Hohebach, Berlichingen und Braunsbach zerstört.
Wenige Monate später kaufte die Kommune das ehemalige Synagogengelände auf, nachdem bereits zuvor die Gebäudereste abgetragen waren. Die jüdische Gemeinde wurde am 12. Juli 1939 offiziell aufgelöst. Bis zu den Deportationen 1941/1942 wurden die noch in der Stadt lebenden jüdischen Personen in wenigen „Judenhäusern“ einquartiert und mussten Zwangsarbeit leisten, z.B. im städtischen Steinbruch.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." kamen 40 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene Künzelsauer Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft gewaltsam ums Leben (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kuenzelsau_synagoge.htm).
Wenige Jahre nach Kriegsende mussten sich drei einheimische ehemalige SA-Männer vor einer Spruchkammer wegen des Synagogenbrandes in Künzelsau verantworten; allerdings konnte ihnen eine Beteiligung an der Brandstiftung nicht eindeutig nachgewiesen werden; sie wurden freigesprochen. Fazit der Spruchkammer: „Die damalige Zerstörung der Künzelsauer Synagoge wurde von auswärtigen Elementen der SA durchgeführt.” Belastendes Material war aus dem Protokollbuch der Feuerwehr vernichtet worden.
Auf dem einstigen Synagogengelände an der Konsul-Uebele-Straße steht seit 1986 eine Gedenkstele mit der Inschrift:
Die Stadt Künzelsau erinnert mit diesem Gedenkstein an das Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger.
In dieser Straße stand die Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde Künzelsau.
Sie wurde 1907 erbaut und am 9.November 1938 bei den nationalsozialistischen Gewalttaten gegen unsere jüdischen Mitbürger zerstört.
2015 wurde auf Initiative von Schülern des Ganerben-Gymnasiums und ihres Geschichtslehrers mit der Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ in der Innenstadt Künzelaus begonnen. Bei der letztmaligen Verlegung (2020) waren es weitere 18 Steine, so dass man derzeit insgesamt ca. 70 messingfarbene Steinquader vorfindet.
verlegt in der Keltergasse
und weitere Steinquader alle Aufn. Hermann Capulet, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Im Ortsteil Nagelsberg hat es vermutlich seit dem 15./16.Jahrhundert jüdische Ansiedlungen gegeben; die Bildung einer Gemeinde ist aus dem Jahre 1652 belegt, nachdem das Fürstbistum Mainz (Ortsherrschaft seit 1492) eine Ansiedling jüdischer Familien erlaubt hatte. Ihren Zenit erreichte die Mitgliederzahl um 1860 mit fast 170 Personen; damit waren mehr als 25% der Dorfbevölkerung jüdischen Glaubens; ihre Wohnsitze befanden sich vor allem in der Mittleren Gasse und Mühlbergstraße. Ihren schmalen Lebensunterhalt bestritten die hiesigen Juden als „Handelsmänner“ (zumeist mit regionalen landwirtschaftlichen Produkten) und auch im Schlachtgewerbe.
Um 1790 besaß die Gemeinde ein eigenes Synagogengebäude, in dem bis in die 1870er Jahre auch die jüdische Schule untergebracht war. Religiös-rituelle Verrichtungen waren einem seitens der Gemeinde angestellten Lehrer übertragen.
Stellenangebot in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6.Dez. 1871
Ein Badehaus (Mikwe) befand sich seit ca. 1830 in der Mühlbergstraße (es wurde in den 1920er Jahren abgebrochen). Unter dem Anbau des ehemaligen Gasthofes „Zum Adler“ war ebenfalls ein älteres rituelles Bad vorhanden, das vermutlich beim Bau der Synagoge 1789 angelegt worden war.
Ihre verstorbenen Angehörigen begrub die Gemeinde anfänglich in Weikersheim, später dann auch in Berlichingen und in Hohebach.
Juden in Nagelsberg:
--- 1806 ...................... 91 Juden,
--- 1822 ...................... 112 " ,
--- 1826 ...................... 134 " (ca. 25% d. Bevölk.)
--- 1833 ...................... 153 " ,
--- 1841 ...................... 158 " (ca. 29 d. Bevölk.),
--- 1864 ...................... 112 " ,
--- 1880 ...................... 65 “ ,
--- 1895 ....................... 28 “ ,
--- 1910 ....................... 7 “ .
Angaben aus: Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, S. 110 /111
Nach 1850 wanderten vermehrt jüdische Familien ins nahe Künzelsau ab; trotzdem suchte man weiterhin die Nagelsberger Synagoge auf. Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende löste sich die jüdische Gemeinde Nagelsberg auf; 1908 wurde das Synagogengebäude an die benachbarte Gastwirtschaft verkauft, die die Räumlichkeit bis 1960 als Saal nutzte.
Ehem. Synagogengebäude in Nagelsberg (Aufn. um 1930)
Anfang der 1930er Jahre lebten in Nagelsberg noch fünf jüdische Frauen, von denen zwei deportiert und ermordet wurden.
Insgesamt fielen der NS-Herrschaft nachweislich 14 gebürtige bzw. länger am Ort lebende Personen mosaischen Glaubens zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/nagelsberg_synagoge.htm).
Eine in den 1980er Jahren am ehemaligen Synagogengebäude (später am Dorfgemeinschaftshaus) angebrachte Gedenktafel trägt den Text:
In diesem Haus befand sich von 1789 bis 1907 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Nagelsberg.
Im Jahre 1907 wurde in Künzelsau in der Konsul-Uebele-Straße eine neue Synagoge erbaut, die im Jahre 1938 zerstört wurde.
Die Stadt Künzelsau erinnert mit dieser Tafel an das Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger.
Weitere Informationen:
Julius Schapiro, Die Israeliten im Bezirk Künzelsau, in: 100 Jahre ‘Kocher- und Jagstbote’, Jubiläumsausgabe vom 2.1.1928
Günther Dürr, Das Schicksal der Juden in Stadt und Kreis Künzelsau, in: "Hohenloher Chronik", No. 10/1963 und No. 11/1964 (Beilagen in der "Hohenloher Zeitung")
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 110 - 112
Günther Dürr, Das Schicksal der Juden in Stadt und Kreis Künzelsau, in: "Festtagsschrift Rosch Haschana", 5729 (1968), S. 22 - 26
J.H. Rauser, Künzelsauer Heimatbuch 1981, Künzelsau 1981, S. 494 f. und S. 574 f.
Hubert Lung, Die Juden in Nagelsberg, in: "Künzelsauer Heimatbuch", 2/1983 (hrg. von Jürgen H. Rauser), S. 512 f.
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 261 - 263
Martin Frey/Stefan Kraut, ... und lebten unter uns - Juden in Künzelsau. Sonderdruck aus dem "Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch-Franken", Band 77/1993, Künzelsau 1993
Gerhard Taddey (Hrg.), ... geschützt, geduldet, gleichberechtigt ... Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17.Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreiches (1918), in: "Forschungen aus Württembergisch Franken", Band 52, Ostfildern 2005, S. 93/94
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 269 – 272
Künzelsau, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Nagelsberg, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Matthias Schneider, Jüdisches Leben in Künzelsau (Aufsatz), o.J.
www.swr.de/swr2/stolpersteine/orte/akustische-stolpersteine-kuenzelsau
Auflistung der in Künzelsau verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Künzelsau
Katrin Draskovits (Red.), Neue Stolpersteine in Künzelsau erinnern an Opfer der NS-Zeit, in: stimme.de vom 4.3.2020
Tamara Ludwig (Red.), Mit dem Stadthistoriker in Nagelsberg: Wo jüdische Geschichte noch erkennbar ist, in: „stimme.de“ vom 15.9.2024