Gedern (Hessen)

https://de-academic.com/pictures/dewiki/75/Kreis_Salm%C3%BCnster.jpgWetteraukreis KarteGedern ist eine hessische Kleinstadt mit derzeit ca. 7.200 Einwohnern im äußersten Nordosten des Wetteraukreises - ca. 50 Kilometer nordöstlich von Frankfurt/M. bzw. südwestlich von Fulda am Rande des Vogelsberges gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: de-academic.com und Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst/de.hessen/wetteraukreis).

 

In der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts wurden in Gedern Juden erstmals urkundlich erwähnt; doch dürften bereits im ausgehenden Mittelalter wenige jüdische Familien - wenn auch nur zeitweilig - hier gelebt haben. Die Ortschaft gehörte bis 1806 zur Herrschaft der Fürsten von Stolberg-Wernigerode. Mit dem Ausbau einer gräflichen Residenz gegen Ende des 17.Jahrhunderts in Gedern vergrößerte sich auch die Zahl seiner jüdischen Bewohner; durch ihre Ansiedlung versuchte der Landesherr die Wirtschaftskraft der Region auszubauen; besonderes Interesse bestand dabei an vermögenden jüdischen Familien. Neben Schutzgeldzahlungen an den Landesherrn mussten die Juden auch finanzielle Leistungen an die Stadt Gedern erbringen, was oft Streit auslöste. Spannungen zwischen Christen und Juden innerhalb der kleinstädtischen Bevölkerung gab es während des gesamten 18. und des beginnenden 19.Jahrhunderts.

Erste Gottesdienste in Gedern fanden ab 1702 - im Einverständnis mit dem Landesherrn - in einem Privathause einer jüdischen Familie statt. Ein neues Synagogengebäude wurde Mitte der 1860er Jahre unweit der Ortsmitte errichtet; eine Empore im Obergeschoss war den weiblichen „Zuschauern“ vorbehalten. Im Keller der angeschlossenen Schule war eine Mikwe untergebracht.

Synagoge links im Bild - Aufn. um 1910 (aus: Altaras, Synagogen in Hessen)

In der Synagogenordnung von 1859 - diese galt für alle jüdischen Gemeinden des ehem. Landkreises Nidda - war in elf Artikeln der Ablauf des Gottesdienstes genau festgelegt; Zuwiderhandlungen waren mit Strafen bedroht.

Religiöse Aufgaben der Gemeinde verrichtete ein angestellter Lehrer. Seit 1903 war Adolf Bauer Religionslehrer in Gedern; er übte dieses Amt mehr als ein Vierteljahrhundert aus.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20125/Gedern%20Israelit%2020021878.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20125/Gedern%20Israelit%2019101893.jpg

gemeindliche Stellenanzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 20.Febr. 1878 und vom 19.Okt. 1893

In Gedern existierte auch eine jüdische Begräbnisstätte, die vermutlich um 1700 weit abseits der Bebauung westlich des Ortes angelegt worden war. Um 1830 wurde ein neuer Friedhof eröffnet, der mit einer Mauer umgeben war und sich an den älteren Teil anschloss. 

Die Gemeinde Gedern gehörte zum orthodoxen Rabbinatsbezirk Gießen.

Juden in Gedern:

         --- um 1740 ................... ca.  12 jüdische Familien,

    --- 1806 ..........................  20   “         “    ,

    --- 1827 .......................... 128 Juden (ca. 7% d. Bevölk.),

    --- 1855 .......................... 171   “   (in 29 Familien),

    --- 1867 .......................... 155   “  ,   

    --- 1880 .......................... 150   “  ,

    --- 1895 .......................... 160   “  ,

    --- 1900 .......................... 156   “   (ca. 9% d. Bevölk.),

    --- 1905 .......................... 137   “  ,

    --- 1910 .......................... 136   “  ,

    --- 1925 .......................... 146   “   (ca. 7% d. Bevölk.),

    --- 1932/33 ................... ca. 130   “  ,

    --- 1937 (Jan.) ...................  32   “   (in 8 Familien),

             (Herbst) .................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 238

und                  Thomas W. Lummitsch, Jüdisches Leben in Gedern, S. 112

 

Im 18./19.Jahrhundert verdiente das Gros der Gederner Juden seinen Lebensunterhalt als Viehhändler und Hausierer. Als Kaufleute, Viehhändler und auch Handwerker lebten die jüdischen Familien in Gedern um 1900/1920 in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen; 1933 gab es hier 22 Gewerbebetriebe, die zumeist in der Hauptstraße angesiedelt waren.

Geschäftliche Anzeigen von jüdischen Gewerbetreibenden:

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20188/Gedern%20Israelit%2023101890.jpg (1890)  http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20155/Gedern%20Israelit%2012031908.jpg (1908)

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20155/Gedern%20Israelit%2007051891.jpg  http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20125/Gedern%20FrfIsrFambl%2006121918.jpg (1891/1918)

Noch vor dem Aufkommen der Nationalsozialisten in Gedern machten sich antisemitische Tendenzen bemerkbar, die von nationalistischen Kreisen wie dem „Jungdeutschen Orden“ und von örtlichen Geistlichen getragen wurden; ein Teil der Bevölkerung teilte diese Gedanken - wohl eine Folge der Tatsache, dass die Juden Gederns bei der christlichen Bevölkerungsmehrheit immer noch nicht voll akzeptiert waren. Die jüdischen Bewohner Gederns waren an einer Integration in die kleinstädtische Bevölkerung eigentlich nie richtig interessiert gewesen, vielmehr blieb man mehr unter sich. Wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme – am 13.März 1933 - kam es in Gedern zu ersten gewalttätigen Übergriffen der SA auf jüdische Einwohner; an den schweren Ausschreitungen aktiv beteiligt waren auch einheimische Bürger. Zum Boykott jüdischer Geschäfte wurde von der NSDAP-Ortsgruppe in der Lokalzeitung „Gedener Anzeiger” am 30.März 1933 aufgerufen:

... Wir sind mit den marxistischen Hetzern in Deutschland fertig geworden und werden, auch wenn sie nunmehr vom Ausland ihre verbrecherischen Verrätereien fortsetzen, diese Hetzkampagne über den Haufen rennen und das Judentum endgültig in die Knie zwingen. Samstag, den 1.April, Schlag 10.00 Uhr wird das Judentum wissen, wem es den Kampf angesagt hat. In Gedern beginnt morgens bereits die Aktion.                                                                                                                                                                                                                           N.S.D.A.P. Ortsgruppe Gedern

 

Ende September 1933 kam es zu einer weiteren antijüdischen „Aktion“. Die antisemitische Propaganda der Folgezeit beschleunigte den ökonomischen Niedergang des jüdischen Geschäftslebens in Gedern. Bereits in den ersten vier Jahren der NS-Zeit verließen fast alle Gederner Juden den Ort, Konsequenz der sich immer mehr verschlechternden wirtschaftlichen Lebensbedingungen. Die meisten verzogen nach Frankfurt und in andere deutsche Städte, wenige gingen direkt von Gedern in die Emigration; innerhalb von vier Jahren wurden fast 130 Abmeldungen verzeichnet. Seit Sommer 1937 war Gedern „judenfrei”, nachdem mit der Witwe Dora Voehl das letzte Mitglied der inzwischen aufgelösten jüdischen Gemeinde Gedern verzogen war.

Das Synagogengelände und der jüdische Friedhof fielen an das Land Hessen; letztlich kam das Synagogengebäude in den Besitz eines Gederner Geldinstituts, der Friedhof wurde von der Kommune übernommen.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 35 gebürtige bzw. längere Zeit in Gedern ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gedern_synagoge.htm).

Für ihre aktive Teilnahme bei den judenfeindlichen Ausschreitungen des Frühjahr 1933 mussten sich 1949 sieben Bewohner Gederns vor dem Landgericht in Gießen verantworten; sie wurden zu kurzzeitigen Gefängnisstrafen verurteilt.

 

Nach Kriegsende wurden die Anlagen beider jüdischer Friedhöfe wieder in einen würdigen Zustand versetzt; auf dem neueren Gelände findet man etwa 150 Grabsteine.

 http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20Hessen02/Gedern%20Friedhof%20116.jpg

älterer und jüngerer Teil des jüdischen Friedhofs (Aufn. U., 2016, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0 und H. Hausmann, 2005)

Das ehemalige Synagogengebäude, das 1937 an die Kommune verkauft worden war und deshalb der Zerstörung während des Novemberpogroms entging, wurde nach dem Krieg zu einem Wohnhaus umgebaut. 

Seit 2010 erinnert hier eine Gedenkplatte mit 35 Familiennamen an diejenigen, die in den Jahren 1933 bis 1937 Gedern verlassen mussten und deren Angehörige teilweise dem Holocaust zu Opfer gefallen sind.

 undefinedGedenktafel mit den Namen der jüdischen Familien (Aufn. aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

In den heutigen Ortsteilen Wenings und Ober-Seemen gab es auch jüdische Gemeinden; beide verfügten jeweils über eine eigene Synagoge und einen Friedhof.

Die jüdische Gemeinde in Ober-Seemen erreichte in den 1830er Jahren mit etwa 150 Angehörigen ihren zahlenmäßigen Zenit; zu Beginn der NS-Zeit lebten noch knapp 20 jüdische Familien am Ort.

[vgl. Ober-Seemen (Hessen)]

 

Die jüdische Gemeinde Wenings erreichte zu keiner Zeit mehr als 100 Angehörige. Seit Ende der 1870er Jahre nutzte die Gemeinde ihre neue Synagoge in der Amtshofstraße, die im November 1938 ausbrannte. Die ca. 15 jüdischen Familien verdienten zu Beginn der 1930er Jahre ihren Lebensunterhalt als Kaufleute und Viehhändler.

[vgl.  Wenings (Hessen)]

Alle drei jüdischen Gemeinden - Gedern, Ober-Seemen und Wenings - gehörten bis 1933 dem „Landesverband gesetzestreuer Synagogen-Gemeinden” an.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 237 – 239 und Bd. 2, S. 156/157 und S. 358/359

Thea Altaras, Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945 ?, Verlag K.R.Langewiesche Nachfolger Hans Köster, Königstein/T. 1988, S. 186

Thomas W. Lummitsch, Jüdisches Leben in Gedern. Geschichtliches Kaleidoskop aus den vergangenen Jahrhunderten, Hrg. Magistrat der Stadt Gedern, Schotten 1991

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 321/322

Mathilda Wertheim Stein, The way it was: The jewish world of rurel Hesse, 2000 (Kapitel 12)

Gedern, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Gemeindehistorie)

Judith Seipel (Red.), Gedenktafel gibt stummes Zeugnis von ihrer Existenz, in: „Kreisanzeiger“ vom 10.8.2010