Castrop-Rauxel (Nordrhein-Westfalen)

Datei:Castrop-Rauxel in RE.svg Castrop-Rauxel ist eine von derzeit ca. 75.000 Menschen bewohnte Stadt im Kreis Recklinghausen - Reg.bezirk Münster (Kartenskizze 'Kreis Recklinghausen', TUBS, 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Der erste in Castrop ansässige Jude, Berend Levi, hatte 1699 einen Schutzbrief des brandenburgischen Kurfürsten erhalten, der ihm gestattete, „Handel und Wandel nach Gefallen zu treiben auf 20 Jahr”; diese Erlaubnis wurde mehrmals verlängert. Dass sich kaum Juden in Castrop ansässig machten, lag wohl darin begründet, dass der Ort abseits von Handelsstraßen gelegen war und so wenig Anziehungskraft auf Händler ausübte. Die wenigen in Castrop lebenden Juden erhielten 1743 die Genehmigung, nördlich des Nordentores einen Friedhof anzulegen. Erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts kann von einer nennenswerten jüdischen Ansiedlung in Castrop gesprochen werden; ihren Lebensunterhalt bestritten die allermeisten Familien damals vom Hausierhandel.

Ca. 75 Menschen mosaischen Glaubens lebten Mitte des 19. Jahrhunderts im Amt Castrop. Sie kamen zu gottesdienstlichen Treffen zunächst im Privathaus des Joseph Levi (an der späteren Münsterstraße) zusammen. 1844 erwarb die kleine Gemeinde ein Grundstück an der späteren Schulstraße (dem heutigen Simon-Cohen-Platz); ein Jahr später wurde hier die Synagoge, ein kleiner Fachwerbau, errichtet. Dieser verfügte über einen ebenerdigen Betsaal und einen Schulraum. Zur Einweihung waren alle Ortsbewohner eingeladen.

         Zeichnung Horst Rumberg

Über dem Eingang an der Längsseite des Gebäudes befand sich die Inschrift: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (Leviticus 19,18)". Die mit einer Empore versehene Synagoge wies im Innern eine Bemalung auf, die beim Betrachter ein Quadermauerwerk vorspiegeln sollte; der untere Teil der Bemalung deutete Vorhänge an.

                                          Synagogeninnenraum (Aufn. Archiv Chapelier) 

Im Synagogengebäude befand sich auch eine kleine private jüdische Elementarschule, die - mit kurzzeitigen Unterbrechungen - beinahe ein Jahrhundert in Betrieb war und 1938 geschlossen werden musste.

Um die Jahrhundertwende gehörten zum Synagogenbezirk Castrop auch die jüdischen Familien der Orte Bodelschwingh, Börnig, Deusen, Frohlinde, Habinghorst, Holthausen, Mengede, Merklinde, Rauxel und Sodingen lebten.

Juden in Castrop (-Rauxel):

     --- um 1700 ....................... eine jüdische Familie,*

     --- 1798 ..........................  19 Juden,*

     --- 1818 ..........................  45   “  (in 11 Familien),*

     --- 1846 ..........................  73   “  ,*

     --- 1857 ..........................  90   “  ,*

     --- 1871 ..........................  67   “  ,*

     --- 1880 .......................... 120   “  ,*

     --- 1900 .......................... 139   “  ,*

     --- 1913 .......................... 150   “  ,*

     --- 1920 .......................... 151   “  ,*       * nur in Castrop

     --- 1932/33 ................... ca. 125   “  ,**

     --- 1934 .......................... 109   “  ,**

     --- 1935 .......................... 133   “  ,**

     --- 1936 ..........................  85   “  ,**

     --- 1938 ..........................  77   “  ,**

     --- 1939 (Mai) ....................  46   “  ,**

     --- 1942 (März) ...................  23   “  ,**

     --- 1943 ..........................   3   “  .**       ** ab 1926 Castrop-Rauxel

Angaben aus: Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Reg.bez. Münster, S. 278

und                 Dietmar Scholz, “... wir leben in diesem schönen, reichen Lande vor allem in Frieden und Freiheit” ...

 

Der jüdische Bevölkerungsteil der „Doppelstadt“ lebte schwerpunktmäßig in Castrop. Mit der schnellen Industrialisierung der Region wandelte sich auch die Berufsstruktur: weg vom jüdischen Hausierer hin zum Kleinhändler und Kaufmann. So verdienten in den 1920er Jahren die hiesigen Juden zumeist ihren Lebensunterhalt als Einzelhandelskaufleute in den verschiedensten Branchen. Es gab 17 Läden, sechs waren Viehhändler.

Wie fast überall in Deutschland begannen in Castrop-Rauxel die reichsweit gesteuerten Boykottaktionen bereits Ende März 1933; SA-Angehörige besetzten die Eingänge jüdischer Geschäfte in der Altstadt und zwangen die Inhaber, diese zu schließen. Am 1.April setzte man die „Aktion“ fort: so sollen HJ-Mitglieder versucht haben, Kunden beim Betreten jüdischer Geschäfte zu behindern. Trotz des zunehmenden Drucks verließen zunächst nur sehr wenige Juden Castrop-Rauxel; erst nach 1935 setzte eine deutliche Abwanderungsbewegung ein. Während des Novemberpogroms zerstörten SA-Angehörige Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte in den Hauptstraßen; deren Inneneinrichtungen wurden demoliert; ebenso erging es ihren Wohnungen. Pöbeleien und Tätlichkeiten mussten die Bewohner über sich ergehen lassen. Etwa zehn Männer wurden verhaftet und ins KZ Sachsenhausen eingeliefert. Die Castroper Synagoge wurde vermutlich von SA-Leuten aus Herne in Brand gesteckt; das kleine Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder; einen Tag später wurde es niedergerissen. Aus einem Augenzeugenbericht: „ ... Die kleine Synagoge in der Straße ‘Im Ort’ war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen, schrecklich anzusehen. Die großen Geschäftshäuser am Markt, in der Münster- und Widumerstraße waren - soweit sie sich in jüdischen Händen befanden - entsetzlich zugerichtet. Die Waren in den Glaskästen waren auf dem Fußboden umhergestreut und zertreten. Vor allem aber hatte die SA auch die großen, schönen und sehr wertvollen Schaufensterscheiben roh zersplittert, und Tausende von großen und kleinen Glasscherben bedeckten das Straßenpflaster. Viele Menschen standen verstört umher und sahen mit Schrecken des furchtbare Verderben. SA-Posten, die überall aufgestellt waren, gaben Obacht, daß niemand ein Wort der Mißbilligung oder des Bedauerns über die Juden sagte oder gar ein Lichtbild zu nehmen versuchte. Geschah es dennoch, so nahmen sie sofort den Apparat weg. Aber nicht genug damit, es wurden viele Juden verhaftet und in die Konzentrationslager abgeführt.(aus: Gerhard Schinke, Die bekennende Gemeinde Castrop zur Zeit der Hitlerdiktatur von 1933 bis 1945, S. 52) Die Abbruchkosten der Synagogenruine wurden der jüdischen Gemeinde auferlegt, die das Grundstück im Sommer 1939 abgeben musste. Im „Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung” vom 11.11.1938 wurde das Geschehen wie folgt dargestellt:

Auch in Castrop-Rauxel machte sich am Spätabend die Empörung über die feige jüdische Mordtat in Demonstrationen Luft. Man suchte insbesondere den Marktplatz der Altstadt auf, wo sich noch drei große Kaufhäuser in jüdischen Händen befinden. Vor Tagesanbruch wurde die Altstadt-Feuerwehr alarmiert, die sich mit der Motorspritze zur Straße Im Ort begab, wo die Synagoge brannte. Zur gleichen Zeit wurden am Altstadt-Markt die Schaufenster der jüdischen Geschäfte zertrümmert. ... Den ganzen Tag über dauerten die Kundgebungen vor den jüdischen Geschäften, deren Schaufenster zum eigenen Schutz einen Bretterverschlag erhielten.

Nach dem Novemberpogrom waren die „Arisierungen“ bald abgeschlossen. Die jüdischen Bewohner wurden zunächst in „Judenhäusern“ untergebracht und im Laufe des Jahres 1942 - via Sammelstelle Dortmund - ins besetzte Osteuropa deportiert; die letzten 23 in Castrop-Rauxel lebenden jüdischen Bewohner sollen davon betroffen gewesen sein. Etwa 80 Juden aus Castrop-Rauxel wurden Opfer NS-Gewaltherrschaft.     

 

Nach dem Krieg hat sich keine jüdische Gemeinde wieder gebildet; die nur wenigen Juden vor Ort gehörten zur jüdischen Kultusgemeinde Dortmund. Ein 1948 errichtetes Mahnmal für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft an der Leonhardstraße trägt auch die einige Namen jüdischer Opfer. Seit 1969 erinnert in der Fußgängerzone zwischen Münsterstraße und Busbahnhof am heutigen Simon-Cohen-Platz eine Pflasterung des Synagogengrundrisses und eine Marmorplatte, die folgende Worte trägt:

Hier stand die Castroper Synagoge errichtet im Jahre 1845

Sie wurde unter der Herrschaft der Gewalt und des Unrechts am 10.November 1938 zerstört.

Der Platz ist nach dem Kommunalpolitiker und Zentrumsabgeordneten Simon Cohen benannt, der u.a. Mitbegründer der Freiwilligen Feuerwehr sowie anderer Vereinigungen in Castrop war. Er starb bereits 1929. Eine Inschriftentafel erinnert wie folgt: „Der jüdische Kaufmann Simon Cohen (geboren am 25.12.1849 im Haus Münsterstraße 14, gestorben am 27.03.1929), Sohn des Castroper Handelsmannes Leser Levi Cohen, war von 1895 bis 1919 in der Kommunalpolitik als Gemeinde- bzw. Stadtverordneter tätig, Angehöriger der Zentrumspartei und Mitglied vieler Castroper Vereine."

              File:Gedenktafel Alte Synagoge Simon Cohen Platz.jpg

Gedenkplatte (Aufn. Gmbo, 2013, aus: commons.wikimedia, CC BY-SA 3.0)

Im November 2010 wurden in der Altstadt Castrops die ersten sog. „Stolpersteine“ verlegt; in den Folgejahren erhöhte sich deren Zahl auf  ca. 65 Steine (Stand 2020).

verlegt für Angehörige der Familien Meyer und Weinberg

Stolperstein für David CohenStolperstein für Luise Cohen geb. BachmannStolperstein für Adolf CohenStolperstein für Erich CohenStolperstein für Richard CohenStolperstein für Werner Cohen

verlegt Am Markt und in der Holzstraße (Aufn. Gmbo, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Der jüdische Friedhof, nördlich der Altstadt Castrops gelegen, ist heute die älteste noch erhaltene jüdische Begräbnisstätte im Kreis Recklinghausen; allerdings sind von den insgesamt hier aufgestellten ca. 250 Grabsteinen nur noch ca. 50 bis 60 vorhanden, die zudem von der Vegetation fast eingenommen sind.

Castrop-Rauxel Jewish cemetery.jpgFriedhof Castrop (Aufn. A., 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

Weitere Informationen:

Karl Hartung, Die Synagoge von Castrop-Rauxel, in: "Kultur und Heimat - Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung", Ausgabe 9/1957, No. 4, S. 234/35

Karl Hartung, Der jüdische Friedhof in Castrop-Rauxel, in: "Kultur und Heimat - Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung", Ausgabe 11/1959, No. 3, S. 127 - 130

Karl Hartung, Die Einweihung der Castroper Synagoge 1845, in: "Kultur und Heimat - Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung", Ausgabe 20/1968, No. 3/4, S. 133/34

Gerhard Schinke, Die bekennende Gemeinde Castrop zur Zeit der Hitlerdiktatur von 1933 bis 1945, in: "Kultur und Heimat - Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung", Ausgabe 32/1981

Dietmar Scholz, “Wornach ... der Magistrat des Orths ... des Impetranten Sohn ... gehörig zu schützen hat.” Die ersten Juden in Castrop: Schutzjuden in der brandenburgisch-preußischen Grafschaft Mark ..., in: Vestische Zeitschrift, Bände 94 - 96 (1995/97)

Dietmar Scholz, “... wir leben in diesem schönen, reichen Lande vor allem in Frieden und Freiheit” - Vom preußischen ‘Schutzjuden’ zum Opfer von Hitlers Vordenkern und willigen Helfern - Leben und Geschichte der Juden in Castrop-Rauxel 1699 - 1945, in: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen, Band 2, LIT Verlag, München 1998

Harald Wandelt, Von der ersten Niederlassung bis zur Jewish Trust Corporation.Jüdisches Leben in Castrop-Rauxel (1722 - 1952), Dissertation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Theologie, Universität Dortmund, 1998

Dietmar Scholz, Die erste jüdische Familie in der ‘Freyheit’ Castrop, in: "Kultur und Heimat - Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung", Jg. 50 (1999), S. 114 - 118

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 in Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 90/91

Dietmar Scholz, Der jüdische Friedhof in Castrop (1743 - 1943/2000), in: "Der Märker - Landeskundliche Zeitschrift für den Bereich der ehemaligen Grafschaft Mark und den Märkischen Kreis", 49.Jg., Heft 4/2000, S. 165 - 172

Dietmar Scholz, “Durch die Geburt eines kräftigen Antisemiten wurden hoch erfreut ...” Zum Antisemitismus in Castrop und Umgebung im ausgehenden 19.Jahrhundert, in: "Märkisches Jahrbuch für Geschichte", Band 101 (2001), S. 219 - 250

Manfred van Fondern, Castrop-Rauxel - die Chronik: von der Industrialisierung zur Europastadt, Essen 2002

Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Regierungsbezirk Münster, J.P.Bachem Verlag, Köln 2002, S. 277 - 286

Diethard Aschoff, Juden in Castrop-Rauxel im Vergleich zu anderen Kommunen Westfalens vor allem im Ruhrgebiet, in: "Kultur und Heimat - Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung", Jg. 54/2003, S. 33 - 52

Dietmar Scholz (Bearb.), Castrop-Rauxel, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 250 - 262

Michael Fritsch (Red.), Castrop-Rauxel ist die 600. Stadt mit Stolpersteinen, aus: „Ruhr-Nachrichten“ vom 5.11.2010

Auflistung der Stolpersteine in Castrop-Rauxel, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Castrop-Rauxel

Die ehemalige Synagoge, in: "Stadtmagazin“ Ausg. 99 von 11/2014, S. 16

Ann-Kathrin Gumpert (Red.), Neun weitere Stolpersteine in Castrop-Rauxel, in: "Ruhr-Nachrichten" vom 28.12.2016

Auflistung der in Castrop-Rauxel verlegten Stolpesteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Castrop-Rauxel

Ronny von Wangenheim (Red.), Synagoge in Castrop-Rauxel: Film erzählt von der Geschichte und vom jüdischen Leben, in: „WZ - Waltroper Zeitung“ vom 7.11.2022

Stefan Aschenbach (Regie), Geschichte der Synagoge in Castrop-Rauxel (Reportage), in: NRWision, Nov. 2022

Lysia Heuser (Red.), Jüdisches Leben in Castrop-Raxehl. Seltene Aufnahme zeigt, wie die Synagoge aussah, in: "Ruhr Nachrichten" vom 17.12.2022