Wüstensachsen (Hessen)

 Datei:Ehrenberg (Rhön) in FD.svg Wüstensachsen mit seinen derzeit ca. 1.200 Einwohnern ist seit 1970 ein Ortsteil der neugebildeten Kommune Ehrenberg (Rhön) im hessischen Landkreis Fulda – etwa 30 Kilometer östlich der Kreisstadt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, CCO und Kartenskizze 'Landkreis Fulda', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Die jüdische Gemeinde in Wüstensachsen war Mitte des 19.Jahrhunderts - was die Anzahl ihrer Angehörigen angeht - die größte im Kreis Gersfeld.

 

Eine jüdische Gemeinde bildete sich in Wüstensachsen im Laufe des 17.Jahrhunderts; erstmals wird 1630 die Existenz von Juden in Wüstensachsen erwähnt. Eine namentliche Nennung („Heyme Jud, Moße Jud und Leus Jud“) kann dann erstmals um 1655 nachgewiesen werden.

Die Familien standen damals unter dem Schutz der Fürstbischöfe von Würzburg bzw. unter dem der Herren von Thüngen. Im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts wuchs die israelitische Gemeinde in Wüstensachsen stark an und zählte damals zur größten Gemeinde in der Region; zeitweilig besaß sie einen eigenen Rabbiner.

Das baufälliges „Betlocal“ in der Hauptstraße wurde Mitte der 1860er Jahren renoviert und durch einen Anbau erweitert. Für einen Neubau hatte der in Gersfeld amtierende Distriktrabbiner Samuel Wormser geworben, der in einem Schreiben an das Kgl. Bezirksamt die unhaltbaren Zustände des aktuellen Synagogengebäudes wie folgt schilderte: „ Die Synagoge in Wüstensachsen ist so baufällig, daß es fast frevelhaft erscheint, in derselben seine Andacht zu verrichten. Im Innern bietet sie einen schauderhaften Anblick, ein kleiner finsterer Raum, schwarze Wände, große und kleine zerbrochene Ständer (=Betpulte) im Kreise oder besser im Chaos ...“ Dieser untragbaren Situation konnte sich auch die Bezirksbehörde nicht verschließen und ließ in ihrem Gutachten verlauten, daß der Ort „der Andacht und Verehrung des höchsten Wesens unwürdig “ und der Aufenthalt darin „der Gesundheit nachtheilig“ sei. Nach einigen zeitlichen Verzögerungen, die auch der Finanzierung des Bauprojektes geschuldet waren, wurde das Synagogengebäude 1866 (oder Anfang 1867) eingeweiht. Auf Grund der hohen Kosten, die ein Neubau verschlungen hätte, beließ es die finanzschwache Gemeinde mit einer Renovierung u. Vergrößerung des bestehenden Gotteshauses.

Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Religionslehrer bzw. ab 1894 ein Elementarlehrer angestellt, der zugleich als Kantor und Schochet tätig war.

aus: „Der Israelit“ vom 3.5.1900 u. 18.4.1929

1894 wurde in Wüstensachsen eine jüdische Elementarschule eröffnet; zuletzt besuchten nur noch sehr wenige Kinder diese Schule, sodass sie Mitte der 1930er Jahre aufgelöst wurde.

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem relativ weit entfernten jüdischen Bezirksfriedhof in Weyhers beerdigt. Der Friedhof diente den Juden des gesamten Kreises Gersfeld als Beerdigungsstätte. Männer, Frauen und Kindern wurden hier getrennt voneinander begraben. Zur Gemeinde Wüstensachsen gehörten auch die wenigen Juden aus Melperts.

Nach der Auflösung des Distriktsrabbinats Gersfeld 1892 unterstand die Gemeinde von Wüstensachsen dem Provinzialrabbinat Fulda.

Juden in Wüstensachsen:

         --- um 1660 ........................   3 jüdische Familien,

    --- um 1700 ........................   7     “       “    ,

    --- 1717 ...........................  15     "       "    ,

    --- um 1790 .................... ca.  25     “       “    ,

    --- 1817 ...........................  56     “       “    ,

    --- 1871 ........................... 137 Juden (ca. 13% d. Bevölk.)

    --- 1892 ...........................  36 jüdische Familien,

    --- 1905 ........................... 118 Juden,

    --- um 1925 .................... ca. 120   “  ,

    --- 1933 ........................... 116   “  (ca. 10% d. Bevölk.),*     * andere Angabe: 82 Pers.

    --- 1939 (Dez.) .................... keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 441

 

In der Judenmatrikel von 1817 sind für Wüstensachsen 56 jüdische Haushalte mit mehr als 200 Personen aufgelistet. Die jüdischen Bewohner des Ortes, die nahezu alle in der Hauptstraße, der heutigen Rhönstraße, ihr Domizil hatten (von den Einheimischen auch als „Judenberg“ bezeichnet), verdienten ihren kärglichen Lebensunterhalt im Handel, zumeist mit Vieh, und in der Landwirtschaft. Später betrieben sie kleine Ladengeschäfte, die Waren für den täglichen Bedarf anboten.

Trotz zunehmender Auswanderung nach Nordamerika gegen Mitte des 19.Jahrhunderts blieb die Zahl der Gemeindeangehörigen relativ groß; in den 1920er Jahren umfasste die Gemeinde immerhin noch mehr als 120 Mitglieder. Die etwa 35 jüdischen Familien waren in die dörfliche Gesellschaft integriert; Juden gehörten der Gemeindevertretung an und waren auch Mitglieder lokaler Vereine.

Nach der NS-Machtübernahme 1933 verschlechterte sich das bis dahin relativ gute Verhältnis zwischen den Juden Wüstensachsens und den übrigen Dorfbewohnern. Schikanen und Diskriminierungen, aber auch willkürliche Inhaftierungen und Misshandlungen durch SA-Angehörige waren von nun an der Tagesordnung.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20149/Wuestensachsen%20Israelit%2001091938.jpg Notiz in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 1. Sept. 1938

In nur sechs Jahren nach der NS-Machtübernahme verließen fast alle hiesigen Juden ihren Heimatort: Einige emigrierten, andere verzogen in größere deutsche Städte wie Frankfurt/M. oder Fulda; die letzten wurden per LKW nach Fulda abgeschoben.

Während der Novembertage von 1938 wurde die Synagoge zerstört und anschließend abgerissen.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." fielen etwa 50 gebürtige bzw. länger am Ort wohnhaft gewesene jüdische Bürger Wüstensachsens der Shoa zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wuestensachsen_synagoge.htm).

 

Das einstige um 1900 erbaute jüdische Schulhaus kam 1941 in den Besitz der Kommune; bis Mitte der 1980er Jahre wurde es als Bürgermeisteramt und Gemeindebücherei genutzt, ehe es zu einem Wohnhaus umgebaut wurde. Das Grundstück der ehemaligen Synagoge ist heute unbebaut.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20211/Wuestensachsen%20Gedenktafel%20010.jpg Eine kleine Gedenktafel im Rathaus (Aufn. Elisabeth Böhrer) erinnert heute an die frühere jüdische Gemeinde:

Zur Erinnerung an die ehemalige jüdische Gemeinde in Wüstensachsen

und deren Opfer in den Jahren 1933 - 1945

In der Ortsmitte - auf dem Gelände zwischen Bürgerhaus und Kirche - wurde 2014 eine Gedenkanlage für die ehemaligen jüdischen Bürger Wüstensachsens geschaffen. Diese trägt die Inschriften: "Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" und  "Zum Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger, die durch den nationalsozialistischen Rassenhass verfolgt und getötet wurden".

Gedenkort (Aufn. Detlef Bihn 2022, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Im November 2021 wurden in Wüstensachsen die ersten „Stolpersteine“ verlegt; die insgesamt 16 Steine sind Angehörigen jüdischer Familien gewidmet, die Opfer der NS-Verfolgung geworden sind. So wurden vor dem Rathaus sieben Steine für Familie Nordhäuser und jeweils vier weitere für Fam. Buchsbaum (Forsthausstr.) und Fam. Weinberger (Schafsteiner Str.) in den Gehweg eingelassen; ein Jahr später folgten noch 14 weitere messingfarbene Steinquader.

verlegt für Fam. Nordhäuser (Aufn. Kommune Ehrenberg, 2021)

Theobald Gold Jg 1877.pngIda Gold geb Wildberg Jg 1889.pngHertha Strauss geb Gold Jg 1909.pngAnni Margot Gold Jg 1922.png Sara Gold Jg 1874.jpgJohanna Gold 1877.jpg

Max Buchsbaum Jg 1883.pngRosa Buchsbaum 1896.pngManfred Buchsbaum Jg 1920.pngIlse Buchsbaum Jg 1921.png

verlegt in der Rhönstraße/ehem. Hauptstraße (Aufn. Detlef Bihn, 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

                  Mit der Verlegung weiterer 23 Steine wurde 2023 die ‚Aktion‘ abgeschlossen; so sind nun insgesamt mehr als 50 "Stolpersteine" aufzufinden.

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, 441/442

Otto Berge, Zur Pogromnacht in Wüstensachsen, in: "Buchenblätter – Beilage der Fuldaer Zeitung für Heimatfreunde" vom 16.3.1989

Margitta Köhler-Knacker (Verf.), Die jüdische Gemeinde in Wüstensachsen - Erinnerungen von David Grünspecht, Metzgermeister und dessen Sohn Alfred Grünspecht, Hrg. Gemeinde Ehrenberg, 1998

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817, Würzburg 2008, S. 149 f.

Wüstensachsen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen, meist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Michael Imhof (Hrg.), Juden in Deutschland und 1000 Jahre Judentum in Fulda, hrg. von Zukunft Bildung Region Fulda e.V., Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, S. 378 - 385

Franz-Josef Enders (Red.), Gedenkort für jüdische Mitbürger in Wüstensachsen feierlich übergeben, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 13.5.2014

Inge Hohmann (Red.), Vor 150 Jahren Einweihung der Kirche und Bau der Synagoge in Wüstensachsen, in: „Buchenblätter - Beilage zur Fuldaer Zeitung", No. 2/2016

Michael Imhof, 400 Jahre Juden in der Rhön, Hrg. Zukunft Bildung Region Fulda e.V., 2017

N.N. (Red.), Projekt des Bildhauers Gunter Demnig: Initiative Stolpersteine in Wüstensachsen, in: „Osthessen-News“ vom 21.3.2021

Rainer Ickler (Red.), Erinnerung an das jüdische Leben: Ab November sollen Stolpersteine in Wüstensachsen verlegt werden, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 26.3.2021

Michael Imhof, Juden in der Rhön. Jubiläumsausgabe – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, Hrg. Zukunft Bildung Region Fulda e.V., 2021

pm (Red.), Ehrenberg (Rhön). Besonderer Tag für die Gemeinde. Verlegung von Stolpersteinen und „Abend der Erinnerung“ in Ehrenberg, in: „Osthessen News“ vom 17.11.2021

Auflistung der in Ehrenberg - Ortsteil Wüstensachsen verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Ehrenberg_(Rhön)

Margitta Köhler-Knacker, Die jüdische Gemeinde in Wüstensachsen: Erinnerungen des Metzgermeisters David Grünspecht und dessen Sohn Alfred Grünspecht, Hamburg 2022 (Neuauflage)

Hartmut Zimmermann (Red.), 14 weitere Stolpersteine in Wüstensachsen verlegt – Nachfahrin erinnert an ihre Großmutter, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 6.10.2022

pm/gü (Red.), 23 Stolpersteine verlegt – Erinnerung an jüdische Bürger, in: „Osthessen-Zeitung“ vom 7.12.2023