Wickrath - Wickrathberg (Nordrhein-Westfalen)

"Baronie de Wickrad" um 1760 (Abb. R. Zannoni, aus: wikipedia.org, PD-alt und Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Wickrath mit derzeit ca. 17.000 Einwohnern gehört seit 1975 zur Stadt Mönchengladbach und ist heute ein Teil des Stadtbezirks West.

 

In Wickrath befand sich zeitweilig die größte jüdische Gemeinde im Landkreis Grevenbroich.

Anders als in den anderen Stadtteilen Gladbach und Rheydt war in Wickrath bereits im 18. und 19.Jahrhundert eine blühende jüdische Gemeinde beheimatet. Sie verfügte über alle notwendigen religiösen Einrichtungen wie Synagoge, Schule und Friedhof. Die ersten Juden siedelten sich nachweislich bereits um 1610 in dem aus sechs Dörfern bestehenden Herrschaftsgebiet von Wickrath an; eine Gemeinde muss sich aber erst gegen Ende des 17.Jahrhunderts - oder etwas später - gebildet haben. Religiöser Mittelpunkt für alle Juden aus dem Herrschaftsgebiet von Wickrath war das Dorf Wickrathberg; hier befanden sich zwei Beträume. Um 1860 wurde in der heutigen Berger Dorfstraße ein neues Synagogengebäude errichtet; deren Kosten dafür im wesentlichen der Textilunternehmer Abraham Gormanns trug.

                    in der Synagoge (hist. Aufn., um 1930, Quelle: Stadtarchiv)

Jüdische Kinder besuchten die dortige evangelische Volksschule; zweimal in der Woche wurde Religionsunterricht erteilt.

Der in den 1840er Jahren abseits des alten Ortskerns angelegte jüdische Friedhof an der Roßweide in Wickrath diente Juden der Region als Begräbnisstätte. Vermutlich gab es schon zuvor östlich des Schlosses ein Bestattungsgelände für verstorbene Juden.

Juden in Wickrath:*                                                                                                  

    --- um 1790 ..........................  25 jüdische Familien (ca. 110 Pers.),

    --- 1808 .............................  75 Juden,

    --- 1818 ............................. 123   “  ,

    --- 1835 .............................  77   “  ,

    --- 1843 ............................. 162   “  ,

    --- 1863 ............................. 193   “  ,**    ** davon 84 Pers. in Wickrathberg

          --- 1885 ............................. 240   “  ,

    --- 1896 ............................. 205   “  ,

    --- 1905 ............................. 210   “  ,

    --- 1910 ............................. 108   “  ,

    --- 1928 .............................  94   “  ,

    --- 1935 (Okt.) ...................... 118   “  ,

    --- 1942 (Dez.) ...................... keine.

* Synagogengemeinde: ihr gehörten die Orte Wickrathberg, Beckrath, Herrath u. zeitweilig Wanlo an.

Angaben aus: Günther Erckens, Juden in Mönchengladbach, Band 2, S. 314

Hauptstraße in Wickrath (hist. Postkarte, aus: akpool.de)Ansichtskarte / Postkarte Wickrath Mönchengladbach, | akpool.de

Ihren Höchststand erreichte die Wickrather Kultusgemeinde um 1885 mit nahezu 250 Angehörigen; danach ging ihre Zahl deutlich zurück, weil viele von ihnen in die durch die Textilindustrie aufstrebenden nahen Städte Rheydt und Mönchengladbach abwanderten. Mehrheitlich lebten die Wickrather Juden um 1900 in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen; nur ein kleiner Teil hatte den Aufstieg in die bürgerliche Mittelschicht geschafft; unter ihnen war die Familie Spier. Zacharias Spier war es gewesen, der Mitte der 1850er Jahre eine bestehende Gerberei übernahm, aus der sich dann die große Wickrather Lederfabrik entwickeln sollte, die später mit zeitweise 500 Angestellten größter Arbeitgeber am Ort war (ab 1889 als Aktiengesellschaft geführt).

                 Eine Beschriftung erinnert heute noch an den Firmeninhaber Z. Spier (Aufn. B., 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

In den ersten Jahren der NS-Zeit änderte sich im Leben der Juden Wickraths zunächst kaum etwas, wenn man davon absieht, dass am 1.4.1933 auch hier einzelne Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte durchgeführt wurden - allerdings ohne größere Wirkung zu hinterlassen.

1936 gingen die NS-Behörden gegen den Besitzer der Wickrather Lederfabrik wegen „Devisenvergehen und versuchter Steuerhinterziehung“ vor; auf Grund des wachsenden Drucks verließ die Familie Spier Deutschland.

Die Vorgänge während des Novemberpogroms von 1938 besiegelten das Ende der Synagogengemeinde Wickrath. In der Nacht vom 9./10.November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Wickrathberger Synagoge von „unbekannten Tätern“ völlig demoliert; nachts darauf wurde das mit Teer bestrichene Gebäude in Brand gesetzt; es brannte völlig aus. Im Ortsteil Wickrath zertrümmerte der Mob die wenigen jüdischen Geschäfte, auch Wohnungen wurden geplündert. Einige jüdische Männer nahm man „in Schutzhaft“. Ab 1939 wurden die noch in Wickrath und Wickrathberg lebenden jüdischen Familien in „Judenhäusern“ konzentriert; von hier aus wurden die Betroffenen - insgesamt etwa 40 Personen - verschleppt.

Anmerkungen zur „Lederfabrik Spier“: Nach dem Krieg kehrten einige Überlebende der Unternehmerfamilie nach Wickrath zurück. 1948 konnte man die Fabrik mit damals noch 200 Angestellten wieder übernehmen. Wie für viele andere Textilunternehmen in der Region begann auch für die Firma der Familie Spier der wirtschaftliche Abstieg. Nach dem Verkauf an einen neuen Eigentümer musste dieser schließlich 1990 Konkurs anmelden.

                                              Ehem. Standort der Synagoge (Stadtarchiv) 

           Gedenkplatte in Erinnerung an die Synagoge, Dorfstraße (Aufn. Jürgen Vits, 2008)

In Wickrathberg erinnert heute eine in den Bürgersteig eingelassene Bronzeplatte an den Standort der einstigen Synagoge; die mit einer Menora versehene Platte wurde von dem Künstler Bonifatius Stirnberg geschaffen.

In den Gehwegen von Wickrath erinnern „Stolpersteine“ an die ehemaligen Wohnsitze jüdischer Familien; bislang wurden seit 2007 insgesamt ca. 50 messingfarbene Gedenkquader in die Gehwege eingefügt (Stand 2023).

für Familie Spier in der Trompeterallee (Aufn. R., 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

undefinedundefinedundefinedundefined undefinedundefined

verlegt in der Quadtstraße (Aufn. R., 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Der außerhalb des alten Wickrather Ortskerns liegende, von einer Backsteinmauer umgebene jüdische Friedhof – seit 1994 in die Denkmalliste der Stadt Mönchengladbach eingetragen – besitzt ca. 65 Grabsteine bzw. -relikte, die aus den Jahren 1847 bis 1940 stammen. Das etwa 3.000 m² große Areal macht einen sehr gepflegten Eindruck (siehe Abb.).

jüdischer Friedhof

Jüdischer Friedhof in Wickrath an der Roßweide - Gedenkstein (Aufn. K.+ B.Limburg, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

 

In Wanlo – heute südlichster Stadtteil Mönchengladbachs – erinnert an den jüdischen Friedhof nur ein Gedenkstein mit einer darauf platzierten Gedenkplatte an die ehemals hier lebenden jüdischen Familien. Das Friedhofsgelände war nach 1945 eingeebnet worden.

Gedenktafel (Aufn. M., 2007, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

[vgl. Mönchengladbach, Odenkirchen und Rheydt (Nordrhein-Westfalen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Klaus H.S. Schulte, Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein seit dem 17.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein ...", Band 12, Verlag L.Schwann, Düsseldorf 1972, S. 216 - 218

Hilde Sherman, Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto, Berlin 1984 (Biografisches einer Jüdin aus Wickrathberg)* Hilde Sherman, geb. Zander, gebürtig in Wanlo, wuchs in Wickrathberg auf; sie verstarb hochbetagt 2011 in Jerusalem.

Ludwig Hügen, Jüdische Gemeinden am Niederrhein - ihre Geschichte, ihr Schicksal, Willich/Niederrh. 1985

Günther Erckens, Juden in Mönchengladbach, in: "Beiträge zur Geschichte der Stadt Mönchengladbach", Mönchengladbach 1989, Band 2, S. 272 ff.

Doris Sessinghaus-Reisch, Sie waren und sind unsere Nachbarn. Spuren jüdischen Lebens in Mönchengladbach. Katalog zur Ausstellung des Stadtarchivs Mönchengladbach im Haus Zoar, Mönchengladbach 1989

L.Heid/J.H.Schoeps (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Rheinland, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1992, S. 195 f.

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 566/567

Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, J.P. Bachem Verlag, Köln 2000, S. 200 – 204

Jürgen Vits, “Kleine Jüdin“ - Weil es nicht nur Geschichte ist. Eine Spurensuche. Ein Beitrag zur Wickrathberger Geschichte, 2013 (online abrufbar)

Jürgen Vits, Die Synagoge in Wickrathberg, hrg. vom Verein für Heimat- u. Denkmalpflege Wickrathberg 1930 e.V., 2014 (online abrufbar)

Heinz-Josef Katz (Red.), Stolpersteine – Gegen das Vergessen, in: "MG - Mönchengladbacher Zeitung" vom 8.12.2016

Christian Lingen (Red.), Eine jüdische Familie prägte ganz Wickrath, in: rp-online vom 15.12.2016 (betr. Lederfabrik Zacharias Spier)

Marlene Katz (Red.), Zwei Stolpersteine in Wickrath verlegt, in: „MG - Mönchengladbacher Zeitung“ vom 18.12.2017

Auflistung der in Wickrath bzw. Wickrathberg verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: mg-heute.de/2016/12/08/stolpersteine-gegen-das-vergessen

N.N. (Red.), Stolpersteine in Mönchengladbach-Wickrath, Sandstraße 22, in: „Rheinischer Spiegel“ vom 21.4.2021