Wattenscheid (Nordrhein-Westfalen)

Bildergebnis für ruhrgebiet landkarteKarte Wattenscheid ist heute ein Stadtbezirk der kreisfreien Stadt Bochum und zählt derzeit ca. 74.000 Einwohner (beide Kartenausschnitte aus: wikipedia.org, gemeinfrei).

 

Bereits im ausgehenden 15.Jahrhundert lassen sich erstmals vereinzelt Juden in Wattenscheid („Wattenschede“) nachweisen, die vom Herzog von Kleve-Mark zeitlich begrenzte Geleitbriefe erhalten hatten. Auch im 16. und 17.Jahrhundert finden wiederholt Juden urkundlich Erwähnung: So erhielt z.B. im Jahre 1654 der Jude Moses Heymann einen vom Brandenburger Kurfürsten ausgestellten Geleitbrief, der ihm erlaubte, „vorerst auf sechs Jahre in Warrenscheid sich häuslich aufzuhalten und sich zu ernähren mit Schlachten, Kauf und Verkauf. Wenn jemand seines Geldes begehrt, so darf Moses von einem Thaler nur drei Heller Zinsen nehmen und nicht mehr“.

Aus dem Jahre 1731 stammt das erste Indiz für die Existenz eines jüdischen Betraums im Ort; untergebracht war dieser im oberen Stockwerk eines Privathauses in der Oststraße. Etwa 100 Jahre später beschloss die Wattenscheider Judenschaft, die bis 1875 als Filialgemeinde der israelitischen Gemeinde Hattingen angehörte, gemeinsam mit den in Gelsenkirchen wohnenden Juden ein eigenes Synagogengebäude zu errichten. Im Hinterhofbereich eines Geländes an der Ecke Oststraße/Kampstraße konnte die Synagoge - ein schlichtes und unauffälliges Haus - nach zweijähriger Bauzeit im Frühjahr 1829 eingeweiht werden.

                       Betraum der jüdischen Gemeinde (hist. Aufn.)

Seit etwa 1840 bestand in Wattenscheid auch eine einklassige jüdische Schule, die aber nie mehr als 20 Kinder besuchten; es wurde in angemieteten Räumen unterrichtet. Erst 1897 konnte ein eigenes Schulgebäude in der Vödestraße eingeweiht werden, das zugleich auch als Gemeindehaus genutzt wurde. Zwei Jahre später erhielt die jüdische Schule den Status einer öffentlichen Volksschule. 1921 besuchten diese nur noch sechs Schüler; ein Jahr später wurde sie geschlossen.

Der jüdische Friedhof an der Bochumer Straße ist bereits seit Mitte des 17.Jahrhunderts nachweisbar; im Besitz der Gemeinde war das Areal aber erst seit den 1860er Jahren.

Juden in Wattenscheid:

         --- 1642 .........................   2 jüdische Familien,

    --- 1664 .........................   6    "         "   ,

--- 1734 ..........................  43 Juden (in 8 Familien),

    --- 1796 ..........................  13   “   (in 4 Familien),

    --- 1803 ..........................  40   “  ,

    --- 1818 ..........................  41   “   (ca. 5% d. Bevölk.),

    --- 1827 ..........................   8 jüdische Familien,

    --- 1846 ..........................  64 Juden,

    --- 1858 ..........................  67   "  ,

    --- 1875 .......................... 163   "   (ca. 2% d. Bevölk.),

    --- 1895 .......................... 203   "  ,

    --- 1903 .......................... 196   “  ,

    --- 1918 .......................... 177   “  ,

    --- 1931 ...................... ca. 160   “   (0,2% d. Bevölk.),

    --- 1935 .......................... 110   “  ,

             --- 1939 ...................... ca.  50   “  .

Angaben aus: Günter Gleising, Die Verfolgung der Juden in Bochum und Wattenscheid der Jahre 1933 - 1945

und                  Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Reg.bez. Arnsberg, S. 61

Wattenscheid 1895

Ansicht von Wattenscheid 1895 (Abb. aus: wiki-de.genealogy.net/Wattenscheid)

 

Der überwiegende Teil der Wattenscheider Juden ging um 1900 dem Kaufmannsberuf nach; so waren „in der Repräsentantenwahlliste der jüdischen Kultusgemeinde 22 Kaufmänner, ein Lederhändler, ein Arzt, zwei Klempner, zwei Viehhändler, drei Privatiers, vier Rentner, zwei Tagesarbeiter, drei Händler, ein Commis, ein Schuhwarenhändler, zwei Verkäufer, drei Metzger, ein Hausierer, ein Lehrer und ein Bergarbeiter“ aufgeführt.

Mit der NS-Machtübernahme 1933 begann auch in Wattenscheid sukzessive die Verdrängung jüdischer Bürger aus dem Wirtschaftsleben; 1933 kam es auch schon zu Gewalttätigkeiten gegen einzelne Juden.

Im Rahmen der sog. „Polenaktion“ (Ende Okt. 1938) wurden aus Wattenscheid mehrere jüdische Personen an die polnische Grenze abgeschoben.

Am Morgen des 10.November 1938 wurde die Wattenscheider Synagoge an der Oststraße in Brand gesetzt und brannte bis auf die Grundmauern nieder; die angerückte Feuerwehr beschränkte sich lediglich darauf, ein Übergreifen des Feuers auf Nachbargebäude zu verhindern. Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden zertrümmert. Mehrere männliche Juden wurden verhaftet, zunächst ins Bochumer Polizeigefängnis gebracht und von dort nach Dortmund transportiert; von hier aus "überstellte" man sie - in einem Sammeltransport - ins KZ Sachsenhausen; nach einigen Wochen wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.

                Aus einem Bericht der „Allgemeinen Wattenscheider Zeitung” vom 11.11.1938:

Die Folgen der jüdischen Mordtat in Paris wurden gestern in den Morgenstunden auch in Wattenscheid in derselben Weise bemerkbar wie in vielen anderen Orten. Gegen 7 Uhr schoß aus dem Dachstuhl der Synagoge eine hohe Flamme empor, der große Rauchwolken folgten. Als der 1.Löschzug der Freiwilligen Feuerwehr wenige Minuten nach seiner Alarmierung eintraf, war alles, was brennbar war an und in dem schmucklosen kleinen Bau, ein Raub der Flammen. Bald stand nur noch die verrußte Brandruine da. Die Feuerwehr schützte die umliegenden Häuser vor dem Uebergreifen des Feuers. Unterdessen gingen die Schaufenster jüdischer Geschäfte in Trümmer. Im Laufe des Tages wurden sie durch Bretterverschläge gesichert. Wie wenig bekannt die mit einer Rasenfläche des Ende einer Sackgasse an der Oststraße bildende Synagoge in Wattenscheid war, geht daraus hervor, daß die meisten, die von dem Brande hörten, fragten: “Wo ist denn hier eine Synagoge ?”

(aus: Stadtarchiv Wattenscheid)

Die Umfassungsmauern des ausgebrannten Synagogengebäudes blieben erhalten; ab 1939 wurden das notdürftig geschlossene Gebäude als Lagerraum für eine Bäckerei genutzt; Mitte der 1980er Jahre wurde es abgerissen.

In der „alten Judenschule“ wurden ab November 1941 alle Juden aus Wattenscheid zwangsuntergebracht, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Stadtgebiet aufhielten (etliche waren zuvor in die Niederlande gegangen). Am 28. April und 11. Mai 1942 wurden sie in Richtung Osteuropa deportiert. Mindestens 37 Wattenscheider Juden fielen nachweislich dem Holocaust zum Opfer, doch dürfte ihre Zahl deutlich höher liegen.

 

Eine Gedenktafel in der Passage auf dem Nassgelände erinnert seit 1990 an die ehemalige Wattenscheider Synagoge; unter einer hebräischen steht die deutsche Inschrift:

An dieser Stelle befand sich

die in den Jahren 1827-29 erbaute Synagoge der Jüdischen Gemeinde Wattenscheid.

In der Pogromnacht des 9./10.November 1938

wurde sie durch Brandstiftung der Nationalsozialisten zerstört.

 

Am 71. Jahrestag der Reichspogromnacht wurden auf dem Nivellesplatz drei gläserne Gedenkstelen eingeweiht, die eine historische Ansicht des niedergebrannten Gotteshauses und die Namen von 87 Wattenscheider Bürgern jüdischen Glaubens tragen, die der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Finanzierung und Bau des Mahnmals ist auf private Initiative eines engagierten Bürgers erfolgt.

Die Kommune Wattenscheid beteiligt sich auch am sog. „Stolperstein“-Projekt; seit 2005 sind bislang ca. 80 messingfarbene Steinquader in die Gehwegpflasterung verlegt worden (Stand 2023).

Stolperstein für Sarah RöttgenStolperstein für Ernst RöttgenStolperstein für Günther RöttgenStolperstein für Werner Röttgen verlegt in der Gertrudisstraße

 in der Westenfelder Straße Stolperstein für Julius LiebreichStolperstein für Grete LiebreichStolperstein für Rudi Liebreich(Aufn. Gmbo, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

vier "Stolpersteine" in der Hochstraße (Abb. aus: wiki-de.genealogy.net/Wattenscheid/Stolpersteine)

Auf dem durch die Nationalsozialisten zerstörten jüdischen Friedhof - er wurde nach Kriegsende wiederhergerichtet - erinnern nur noch wenige Grabsteine an die hier begrabenen Wattenscheider Juden. 1972 wurde dort ein Mahnmal für jüdischen NS-Opfer von Wattenscheid eingeweiht.

 Geschändeter Friedhof (Aufn. Nov. 2010, aus: linksunten.indymedia.org) 

Mehrere Straßen/Plätze tragen heute Namen von Juden, die in Wattenscheid gelebt bzw. gewirkt haben. So ist z.B. der Vorplatz des Wattenscheider Rathauses nach dem jüdischen Mädchen Betti Hartmann benannt, das als 13jährige deportiert und in Auschwitz ermordet wurde.

 

[vgl. Bochum (Nordrhein-Westfalen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Samuel Oppenheim, Hundert Jahre Synagogengemeinde Wattenscheid. Festgabe zur Feier des 100jährigen Bestehens der Synagoge in Wattenscheid, Wattenscheid 1929

Gisela Wilbertz, Jüdische Friedhöfe im heutigen Bochumer Stadtgebiet. Bochum – Wattenscheid – Stiepel, Bochum 1988

Gisela Wilbertz, Synagogen und jüdische Volksschulen in Bochum und Wattenscheid - Ein Quellen- und Lesebuch, Studienverlag Dr. N. Brockmeyer, Bochum 1988

Günter Gleising, Die Verfolgung der Juden in Bochum und Wattenscheid der Jahre 1933 - 1945 in Berichten, Bildern und Dokumenten, Hrg. Bund der Antifaschisten, Kreisvereinigung Bochum, WURF-Verlag, 1993

Benno Reicher, Jüdische Geschichte und Kultur in NRW - ein Handbuch, in: "Kulturhandbücher NRW", Band 4, S. 59 - 65, Hrg. Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit in NRW, 1993

G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 46/47

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 549 - 551

M.Keller/H.Schneider/J.V.Wagner (Hrg.), Gedenkbuch für die Opfer der Shoa aus Bochum und Wattenscheid, o.O. 2000

Vom Boykott zur Vernichtung. Die Verfolgung jüdischer Bürger in Bochum und Wattenscheid 1933 - 1945. Ein Arbeits- und Quellenbuch, Hrg. Stadtarchiv Bochum (2001/2002)

Andreas Halwer, Die Wattenscheider Juden vor 1933, in: Stadtarchiv Bochum (Hrg.), Vom Boykott bis zur Vernichtung. Leben, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden in Bochum und Wattenscheid 1933 – 1945, Essen 2002, S. 21 - 30

Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen - Regierungsbezirk Arnsberg, J.P.Bachem Verlag, Köln 2005, S. 61 – 64

Verlegte Stolpersteine in Wattenscheid, online abrufbar unter: wiki-de.genealogy.net/Wattenscheid/Stolpersteine

Bernd Nickel (Red.), Ein Platz für das Schoah-Denkmal, in: "WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 26.5.2009

Ferdi Dick (Red.), Drei Stelen wider das Vergessen, in: "WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 26.10.2009

Helfs Hof erinnert an jüdisches Leben, in: "WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 25.6.2014

Andreas Halwer (Bearb.), Bochum-Wattenscheid, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 226 – 233

Auflistung der in Bochum/Wattenscheid verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bochum

Timo Gilke (Red.), Die Erinnerung an die Verbrechen darf nicht verblassen, in: „WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 9.11.2018

Michael Thaidigsmann (Red.), Jubiläum. Seit 151 Jahren Teil der Stadtgesellschaft, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 30.8.2021

Karl-Heinz Lehnertz/Marius Jakobus (Red.), Stolpersteinverlegung in Wattenscheid Günnigfeld für Familienmitglieder Leopold, Johanna, Heinz und Fritz Schmelz, in: „Stadtspiegel“ vom 14.6.2022 (Anm. mit detaillierten biografischen Angaben zu den Familienangehörigen)