Reichenberg (Unterfranken/Bayern)

Datei:Reichenberg in WÜ.svg Reichenberg mit derzeit ca. 4.200 Einwohnern ist ein Markt im unterfränkischen Landkreis Würzburg – etwa zehn Kilometer südlich von Würzburg (Kartenskizze 'Landkreis Würzburg', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts entsprach der jüdische Bevölkerungsanteil in Reichenberg etwa einem Drittel der Dorfbevölkerung.

http://up.picr.de/10592569lo.jpgAnsicht von Reichenberg (hist. Aufn., um 1910)

Ein erster Beleg für die Anwesenheit eines Juden in Reichenberg bzw. im nahen Umland findet sich aus der Zeit des ausgehenden 16.Jahrhunderts; in den Folgejahrzehnten sind vereinzelt weitere Familien hierher gekommen. Die jüdischen Familien standen unter der Schutzherrschaft des zum fränkischen Uradel zählenden Geschlechts derer von Wolffskeel, die zeitweilig die Ansiedlung vertriebener Juden (aber auch Protestanten) förderte; so geschehen, als das nahe, bereits durch den Dreißigjährigen Krieg fast entvölkerte Dorf Hattenhausen durch einen Großbrand 1692 nahezu zerstört wurde und sich unter dem Schutz der Ritter v. Wolffskeel jüdische Familien hier niederließen. Die von den Familien zu zahlenden Schutzgelder waren relativ hoch. Bereits in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts scheint sich im Dorf eine organisierte Gemeinde gebildet zu haben.

Zu den Gemeindeeinrichtungen gehörten eine 1795/1796 am Schinderberg erbaute Synagoge, die einen vorhandenen Betraum ersetzte und für mehr als 140 Jahre Mittelpunkt des jüdischen Lebens sein sollte. Zur Finanzierung des neuen Gebäudes musste die Gemeinde einen Kredit in Höhe von 2.000 Gulden aufnehmen.

                    Blick auf den Thora-Schrein (hist. Aufn., aus: Sporck-Pfitzer)

Anm.: Als Mitte der 1870er Jahre eine Renovierung/Restaurierung des inzwischen 80 Jahre alten Synagogengebäudes anstand und die kleiner gewordene Gemeinde dies finanziell nicht allein tragen konnte, wurde eine bayernweite Kollekte durchgeführt, die fast die gesamten Kosten einbrachte.

Weiterhin gab es eine Mikwe und ein Schulhaus. Elementarunterricht erhielten die jüdischen Kinder gegen Zahlung eines Schulgeldes in der örtlichen christlichen Schule.

Ihre Toten begrub die Reichenberger Judenschaft auf dem jüdischen Bezirksfriedhof in Allersheim. Dieser Friedhof - einer der größten Verbandsfriedhöfe im fränkischen Raume - wurde auf einem im Klosterbesitz befindlichen „wüst liegenden Acker“ angelegt, der von der Judenschaft der Umgebung angekauft worden war. Zahlreiche jüdische Gemeinden der nahen und weiteren Umgebung nutzen in den folgenden Jahrhunderten das Gelände, so u.a. Acholshausen, Bütthard, Fuchsstadt, Gaukönigshofen, Giebelstadt, Heidingsfeld, Höchberg (bis 1821), Kirchheim, Rottenbauer, Tauberrettersheim und auch Würzburg. 1930 unterstand die Gemeinde dem Bezirksrabbinat Würzburg.

Juden in Reichenberg:

         --- 1612 .......................   3 jüdische Familien,

    --- um 1660 ....................   5     “       “    ,

    --- 1741 .......................  21     "       "    ,

    --- um 1775 ....................  28     “       “    ,

    --- 1808 .......................  31     "       "     (ca. 150 Pers.)                  

    --- 1814 ....................... 133 Juden (ca. 31% d. Dorfbev.),

    --- 1835 ....................... 124   "   (in 29 Familien)

    --- 1867 .......................  60   “   (ca. 11% d. Dorfbev.),

    --- 1890 .......................  73   “  ,

    --- 1900 .......................  61   “  ,

    --- 1910 .......................  46   “   (ca. 7% d. Dorfbev.),

    --- 1925 .......................  47   “  ,

    --- 1933 .......................  35   “  ,

    --- 1937 .......................  40   “   (in 12 Familien),

    --- 1939 (Aug.) ................  22   “  ,

    --- 1942 (Febr.) ...............  20   “  ,

             (Juni) ................  keine.

Angaben aus: Jutta Sporck-Pfitzer, Die ehemaligen jüdischen Gemeinden im Landkreis Würzburg, S. 72

und                 Synagogen-Gedenkband Bayern (Unterfranken), Band III/1, Mehr als Steine ..., S. 773

 

Bei der Erstellung der Matrikel (1817) wurden für Reichenberg 27 jüdische Familienvorstände genannt; die meisten bestritten damals ihren Lebensunterhalt vom wenig ertragreichen Kleinhandel; zwei Viehhändler betrieben nebenbei noch eine Metzgerei. Ab Mitte des 19.Jahrhunderts setzte eine Abwanderung jüdischer Familien in Städte der Region ein, vor allem nach Würzburg. Zu Beginn der NS-Zeit lebten noch 35 Juden in Reichenberg.

Während des Novemberpogroms von 1938 blieb die Synagoge zunächst von Zerstörungen verschont; die Häuser der jüdischen Familien wurden aber aufgebrochen, die Männer festgenommen und über Würzburg ins KZ Buchenwald verschleppt. Höhepunkt der antijüdischen Ausschreitungen in Reichenberg war die Nacht des 23./24. September 1939, als ein „loser wilder Haufen von wenigstens 15 - 20 Mann“ durch den Ort zog, in Wohnungen von Juden eindrang, hier schwere Zerstörungen anrichtete und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzte. Danach wurden auch die Fenster und die gesamte Inneneinrichtung der Synagoge zertrümmert, Thorarollen und Gebetbücher auf die Straße geworfen. Eine versuchte Brandstiftung in der Synagoge schlug vermutlich fehl.

Das Synagogengebäude diente im Krieg zeitweilig als Holzlager, später benutzte es die Wehrmacht als Lagerraum. Die letzten jüdischen Bewohner - sie waren inzwischen in einem „Judenhaus“ einquartiert worden - wurden im März bzw. Mai 1942 ins besetzte Osteuropa bzw. ins "Altersghetto" Theresienstadt deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 31 gebürtige bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Juden Reichenbergs - vor allem Angehörige der Familie Krebs - Opfer der „Endlösung(namentliche Nennung der bertoffenen Personen siehe. alemannia-judaica.de/reichenberg_synagoge.htm).

In einem Verfahren vor dem Landgericht Würzburg mussten sich 1949/1950 aktiv Beteiligte der brutalen Übergriffe vom September 1939 verantworten; die meisten Angeklagten erhielten wegen „schweren Landfriedensbruch“ Haftstrafen zwischen einem Jahr und sieben Monaten.

 

Wenige Jahre nach Kriegsende erwarb die katholische Kirche das ehemalige Synagogengebäude - es ist das einzig bauliche Relikt jüdischen Lebens am Ort - und nutzte es etwa 20 Jahre für ihre Zwecke; danach ging das profanierte Gebäude in Privatbesitz über und dient seitdem Wohnzwecken.

Seit 1988 erinnert eine Gedenktafel am Schinderberg an die einstige jüdische Gemeinde Reichenbergs; sie trägt die Inschrift:

Zum Gedenken an unsere ehemaligen jüdischen Mitbürger

“Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt,

nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt,  nicht brennender geliebt haben.”

Reichenberg, den 9.November 1988. Evang.-Luth. Kirchengemeinde Reichenberg

 

 Der Markt Reichenberg nimmt - wie zahlreiche andere unterfränkische Kommunen - auch am Projekt "DenkOrt Deportationen 1941-1944" mit einer "Skulptur" teil (vgl. dazu Würzburg).

Aufn. R. Ries, 2020

 

 

 

Im Nachbardorf Fuchsstadt - heute ein Teil der Marktgemeinde Reichenberg - war Anfang des 19.Jahrhunderts ebenfalls eine relativ große jüdische Gemeinde beheimatet; so war um 1815 jeder dritte Dorfbewohner mosaischen Glaubens. Die Wurzeln der Gemeinde liegen vermutlich im Spätmittelalter. Den „Judenschutz“ hatten bis 1806 die Grafen von Wolffskeel inne. Laut der Matrikel von 1817 waren für Fuchsstadt 32 (!) Stellen aufgelistet. Zu den Kultuseinrichtungen zählten ein Synagogengebäude und vermutlich auch eine Mikwe. Ein von der Gemeinde angestellter Religionslehrer war für die religiös-rituellen Belange zuständig; der vermutlich letzte im Ort tätige Lehrer war von 1861 bis um 1890 Jakob Löb Schloss gewesen.

Verstorbene wurden auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Allersheim beerdigt.

Nach Mitte des 19.Jahrhunderts setzte eine rasche Abwanderung der jüdischen Familien ein; relativ starken Zuzug von Fuchsstadter Juden konnten Heidingsfeld und Würzburg verzeichnen. Bei der Volkszählung von 1875 lebten noch 68 Juden im Dorf (etwa 17% d. Bewohner). Ende der 1880er Jahre löste sich die Gemeinde schließlich auf.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich vier aus Fuchsstadt stammende Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der bertoffenen Personen siehe. alemannia-judaica.de/fuchsstadt_synagoge.htm).

Das an Privatleute verkaufte Synagogengebäude - später als Scheune genutzt - wurde in den 1950er Jahren abgebrochen.

 

 

 

Weitere Informationen:

Baruch Z.Ophir/F.Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 389/390

Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 291/292

Jutta Sporck-Pfitzer, Die ehemaligen jüdischen Gemeinden im Landkreis Würzburg, Hrg. Landkreis Würzburg, Echter-Verlag, Würzburg 1988, S. 70 - 72

Hans-Peter Schwarz (Hrg.), Die Architektur der Synagoge. Ausstellungskatalog Dt. Architekturmuseum Frankfurt/M., Frankfurt/M. 1988, S. 140/141

Wolfgang Schindler/Ulrich Rüthel, Markt Reichenberg mit seinen Ortsteilen Albertshausen, Fuchsstadt, Lindflur und Uengershausen – Bilder aus vergangener Zeit, Horb 1990

Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 58, S. 62 und S. 114

Reichenberg, in: alemannia-judaica.de

Fuchsstadt, in: alemannia-judaica.de

Ulrich Völklein, Der Judenacker. Eine Erbschaft - Tatsachenroman, Bleicher-Verlag, Gerlingen 2001

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 226/227 (Fuchsstadt) und S. 270/271 (Reichenberg)

Cornelia Berger-Dittscheid/Hans-Christof Haas (Bearb.), Reichenberg, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 763 - 775