Londorf (Hessen)

Kreis Hungen - WikiwandDatei:Landkreis Gießen Rabenau.png Londorf mit derzeit ca. 1.900 Einwohnern ist heute der größte der insgesamt sechs Ortsteile von Rabenau im Kreis Gießen (Ausschnitt aus hist. Karte ohne Eintrag von Londorf, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Landkreis Gießen', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).

 

Londorf gehörte zu den Dörfern der „Rabenau”, die den Freiherren von Nordeck zur Rabenau unterstanden. Seit Mitte des 17.Jahrhunderts waren diese Patrimonialherren im Besitz des Judenprivilegs: Sie förderten die Ansiedlungen von Juden und konnten auf Schutzgelder und Naturalabgaben ‚ihrer’ Juden zurückgreifen; so gehörte es z.B. zu den Verpflichtungen der Londorfer Juden, von jedem geschlachteten Stück Vieh die Zunge an den Schutzherrn abzuliefern; diese Naturalverpflichtung wurde später in eine jährliche Zahlungsverpflichtung umgewandelt bzw. durch eine einmalige Ablöse ersetzt. Seit Beginn des 18.Jahrhunderts ist in Londorf eine jüdische Gemeinde nachgewiesen. Im Obergeschoss eines älteren dreistöckigen Fachwerkhauses in der Allendorfer Straße war eine Synagoge eingerichtet; im Parterre befanden sich die Lehrerwohnung und im Hofbereich eine Mikwe.

Religiös-rituelle Aufgaben der Gemeinde waren einem Lehrer übertragen.

    

Stellenanzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5.März 1885 und der CV-Zeitung vom 3.Juli 1924

Ein bereits um 1720 bestehender kleiner jüdischer Friedhof lag am Südrand des Dorfes - in unmittelbarer Nähe zum später angelegten christlichen Friedhof.

                      Jüdischer Friedhof in Londorf (Aufn. Philipp Pfeiff, 2010) 

Zur jüdischen Gemeinde Londorf gehörten auch die Glaubensgenossen aus Geilshausen, Kesselbach und Rüddingshausen; zeitweilig zählten auch die jüdischen Familien aus Nordeck dazu.

Über die Situation im oberhessischen Kesselbach berichtete „Der Israelit“ in einem Artikel am 1.4.1889; so hieß es u.a.: Kesselbach (Oberhessen), 24. März. Während in früheren Zeiten die jüdischen Familien auf dem Lande häufig in Zank und Streit lebten und nicht zusammen verkehrten, freue ich mich, Ihnen von hier gerade das Gegenteil zu berichten, ein Beweis, daß Fortschritt und Bildung sich immer mehr ausdehnen. Es wohnen hier nur 7 Familien, die alle einige sind und wie zu einer Familie gehörig sich gegenseitig zu Gefallen zu leben suchen, wie es nicht schöner gewünscht werden kann. Neben diesem Sinn für Geselligkeit ist aber auch der für Wohltätigkeit ein sehr ausgeprägter; so haben sich die hiesigen Frauen zusammengefunden und eine Frauen-Chebra gegründet, deren Tätigkeit darin bestehen soll, den Armen bei Krankheit und Trauerfällen hilfreich beizustehen; ...“

Die Kultusgemeinde war dem liberalen Rabbinat Darmstadt unterstellt.

Juden in Londorf:

         --- 1828 ........................ 103 Juden (ca. 13% d. Dorfbev.),

    --- 1836 ........................  86  "    (ca. 9% d. Dorfbev.),

    --- 1850 ........................  93  “  ,

    --- 1861 ........................  68  “  ,

    --- 1870 ........................  82  “   (ca. 9% d. Dorfbev.),

    --- 1880 ........................  72  "  ,

    --- 1889 ........................  68  “  ,

    --- 1905 ........................  61  “  ,

    --- 1910 ........................  62  "   (ca. 7% d. Dorfbev.)

    --- 1932 .................... ca.  45  “   (in 15 Familien),

    --- 1941 .................... ca.  15  “  ,

    --- 1942 (Dez.) .................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 499 f.

 

Die Juden Londorfs waren als Viehhändler bzw. Metzger und Kleinkaufleute tätig; sie lebten in recht einfachen Verhältnissen. Zu Beginn der 1930er Jahre wohnten nur noch ca. 15 jüdische Familien im Dorf; ihre Zahl reduzierte sich bis 1938 erheblich; die meisten emigrierten.

Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Synagoge verwüstet; Inneneinrichtung und Ritualien setzte man in Brand. Wenig später kam das Gebäude in Privatbesitz; nach 1945 wurde es abgerissen und das Gelände neu überbaut.

Dem letzten Vorsteher der Gemeinde, Isaak Simon, gelang es zwei Thorarollen zu retten, indem er diese einer nach Großbritannien emigrierenden Familie mitgab. 1941 wurden noch 15 jüdische Einwohner in Londorf gezählt. Die letzten elf jüdischen Dorfbewohner wurden 1942 „in den Osten“ deportiert; über ihre Schicksale ist kaum etwas bekannt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 32 aus Londorf stammende bzw. längere Zeit hier wohnhaft gewesene jüdische Bürger Opfer der Shoa geworden; aus Kesselbach kamen nachweislich 15, aus Rüddingshausen 18 und aus Geilshausen sieben Juden gewaltsam ums Leben (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/londorf_synagoge.htm).

 

Seit Jahren war im Gespräch, der jüdischen Bevölkerung Londorfs zum Angedenken einen Gedenkstein aufzustellen oder eine Gedenktafel anzubringen; dem wurde 2019 entsprochen. Denn seitdem befindet sich am alten Backhaus in der Kirchgasse eine kleine Gedenktafel, die an die ehemaligen jüdischen Bewohner erinnert; sie trägt die Worte: "Zur Erinnerung an unsere Bürger jüdischen Glaubens und zum Gedenken an ihr in den Jahren 1933 bis 1945 durch Unrecht und Gewalt erlittenes Schicksal."

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20250/Londorf%20Friedhof%20183.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20250/Londorf%20Friedhof%20182.jpg

Jüdischer Friedhof in Londorf (Aufn. Philpp Pfeiff, 2010, aus: alemannia-judaica.de)

Seit 2022 mahnen in Londorf 16 Stelen an das Schicksal ehemaliger jüdischer Bewohner, die der NS-Gewaltherrschaft zum Opfer fielen; diese kleine Gedenkstätte wurde am 80.Jahrestag der Deportation der letzten Londorfer Juden eingeweiht; sie befindet sich an der Ecke Gießener Straße/Marburger Straße nahe dem ehemaligen Standort der Synagoge.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 499 – 501

Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein im Taunus, 2007, S. 205/206

Arthur Rothmann (Bearb.), Jüdisches Leben in der Rabenau, in: Gabriele Hofmann/Harald Jung (Red.), 1250 Jahre Londorf - Festschrift, Hrg. Gemeinde Rabenau und Verein für Heimat- und Kultusgeschichte der Rabenau e.V., 2008

Londorf mit Geilshausen, Kesselbach und Rüddingshausen, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Der jüdische Friedhof in Londorf, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Aufnahmen von Ph. Pfeiff)

dge (Red.). Londorf: Gedenktafel für Opfer der Nazis, in: „Gießener Anzeiger“ vom 12.11.2019

Thomas Brückner (Red.), Wenig erinnert an Londorfs Juden, in: „Gießener Allgemeine“ vom 20.2.2022

Thomas Brückner (Red.), Gedenkstätte für Londorfs Juden, in: „Gießener Allgemeine“ vom 17.6.2022

Debra Wisker (Red.), „Jetzt sind sie alle hier“, in: „Gießener Anzeiger“ vom 15.9.2022 (betr. Einweihung der Gedenkstätte in Londorf)

Debra Wisker (Red.), "Nicht vergessen lassen“, in: „Gießener Anzeiger“ vom 24.10.2022